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Kurs auf Neuwahlen

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Während die Hausfrauen noch rasch die letzten Vorräte für die Festtage einkauften, der Verkehr in der Oxfordstreet und am Piccadilly Circus restlos zusammenbrach und ein Doppeldeckerbus hinter dem anderen Sauriern gleich in der Unzahl der Privatwagen und Taxis eingepfercht war, während sich in den großen Londoner Kaufhäusern die Massen drängten und schoben und Prinz Charles beschattet von einem Detektiv Geschenke auswählte, während man sich mit der Wiederwahl de Gaulles stoisch und nicht unfreundlich abfand, kaufte der Londoner für „Threepence” seine Abendzeitung. Neben den letzten Wettresultaten und Fußballtotoergebnissen übermittelte sie ihm auch die Nachricht von der Kabinettsumbildung.

Das Amt des Premierministers, Downingstreet 20, gab der Öffentlichkeit bekannt, daß Mr. Wilson knapp vor Weihnachten sein Kabinett umbildete. Auf der Strecke blieb Mr. Fraser, der bisherige Verkehrsminister; obzwar ihm ein Regierungsamt ohne Kabinettsrang angetooten wurde, zog es Mr. Fraser vor, künftig nur noch sein Abgeordnetenmandat ausüben zu wollen. Infolge der Kabinettsumbildung löst Mr. Roy Jenkins Innenminister Sir Frank Soskice, Mrs. Barbara Castle den Verkehrsminister, Sir Frank Soskice Lordsiegelbewahrer (Minister ohne Portefeuille) Lord Lang- ord, Lord Longford Kolonialminister Anthony Greenwood, Mr. Green- wood Minister für überseeische Entwicklung Mrs. Castle und Mr. Fre- derick Mulley Luftfahrtmindster Jenkins ab.

Zwei Personen im Scheinwerfer

Allgemein stimmen die innenpolitischen Kommentatoren überein, daß die Ernennungen Mr. Jenkins zum Innenminister und Mrs. Castles zum Verkehrsminister aus der Kabinettsumbildung hervorstechen. Mr. Roy Jenkins gilt als einer der fähigsten Labourminister, der schon im Jänner 1964 als Erziehungsminister Kabinettsrang erhalten hätte sollen, jedoch im Luftfahrtiministerium blieb, um die Planungsarbeiten über die Neuordnung der britischen Luftfahrtindustrie zu überwachen und politisch zu vertreten. Mr. Jenkins ist ein ausgebildeter Nationalökonom, der in seiner früheren Position unvoreingenommen an seine Aufgabe heranging und trotz umwälzender Vorschläge Anerkennung erntete. Das Luftfahrtministerium ist zwar noch nicht im Ziel des Hürdenrennens, in dem der Druck auf die öffentliche Meinung, ausgeübt durch ‘ die großen Flugzeugbauuntemehmen und die Gewerkschaften, spürbare 1 Hindernisse darstellen, aber die Ver- 1 öffentlichung des Berichtes über die Zukunft der britischen Luftfahrtindustrie der königlichen Kommission unter dem Vorsitz Lord Plowdens vor zwei Wochen sollte ausreichen, die Diskussion zu versachlichen und die Regierungsarbeit 1 zu erleichtern. Wenngleich die Empfehlungen der Plowden-Kommis- ‘ sion in den nächsten Monaten erst verwirklicht werden müssen, schien dem Premierminister Mr. Jenkins doch entbehrlich zu sein, zumal in Mr. Mulley ein fähiger Nachfolger zur Verfügung stand. Dennoch werden die kommenden Wochen noch zeigen müssen, ob der neue Mann das gleiche Geschick wie Mr. Jenkins in der Behandlung der Industriemanager hat. Immerhin stehen so strittige Vorschläge, wie der Kauf einer staatlichen Mehrheit von 51 Prozent des Aktienkapitals der Gesellschaften, die Fusion der BAC und der Hawker Siddeley, das Fallenlassen der Entwicklung einer „Super-VC 10”, Bau eines „Luftbusses” mit den Franzosen und schließlich, was vor allem in den eigenen Reihen viel Unruhe schafft, die Entlassung von 50.000 Arbeitskräften, zur Debatte, und die konservative Opposition wird voraussichtlich einen harten parlamentarischen Kampf liefern, weil sie durch diese Maßnahmen die internationale Stellung Großbritanniens gefährdet sieht.

Der farbige Zustrom hält an

Auch in seinem neuen Amt erwarten Mr. Jenkins schwierige Aufgaben. Immer mehr schiebt sich die Frage der farbigen Einwanderer aus den Commonwealth-Ländern in den Vordergrund. Die gegenwärtige Lösung, nämlich eine mengenmäßige Begrenzung der Einwanderung, Wird von vielen Wählern als unzureichend angesehen. Für die Labourpartei besonders unangenehm ist der Umstand, daß in Mittelengland und in Nordwestengland in den Wahlkreisen, in denen die Farbigen zahlenmäßig schon ins Gewicht fallen, die Mehrzahl der Arbeiter eine schärfere Einwanderungspolitik verlangt. Damit steht die Parteiführung und Mr. Jenkins als zuständiger Ressortminister vor dem Problem, wie er die traditionell offene und liberale Einstellung der Sozialisten mit der Wählerstimmung in Einklang bringt Schließlich erwartet man sich in politischen Kreisen von Mr. Jenkins eine Beschleunigung der strafrechtlichen Reform.

Muß man Mrs. Castle beobachten?

Mrs. Barbara Castle übernimmt mit dem Verkehrsministerium ebenfalls eine innenpolitisch heikle Aufgabe. Ihr wird die Koordination des Straßen- mit dem Schienenverkehr zufallen, die im sozialistischen Wahlprogramm eine große Rolle spielte. Was sich die Parteileitung im Transport House auf dem Smith Square darunter wirklich vorstellt, ist unbekannt. Manche fürchten Eingriffe, die den Wettbewerb einseitig zugunsten der Bahn verzerren. Der konservative „Daily Telegraph” schreibt in seinem Kommentar zur Regierungsumbildung sogar, daß „man Mrs. Castle beobachten müsse. Sie verstaatlicht gerne; ihr Temperament und ihre Neigung drängen sie zu einer solchen Politik, und das Verkehrsministerium gibt ihr zu viele Möglichkeiten, den Staat überall dort zu begünstigen, wo er im Wettbewerb mit der Wirtschaft steht.” Trotzdem begrüßt man ihre Ernennung, da sie als fähige Orga- nisatorin bekannt ist. Und der Premierminister düfte Mrs. Castle mit diesem wichtigen Amt betraut haben, weil er sich von ihr eine gute Öffentlichkeitsarbeit erhofft, die dem Prestige der gesamten Regierung zugute käme.

Spaltung der Opposition

Die Regierungsumbildung fiel zeitlich mit einem anderen innenpolitischen Ereignis von womöglich noch größerer Bedeutung zusammen. In der Abstimmung über das Ölembargo gegen Rhodesien brach die bisher von Mr. Heafh mühsam aufrechterhaltene Einigkeit der Oppositionspartei auseinander. Obwohl der Oppositionsführer seine Parteikollegen beauftragte, sich der Stimme zu enthalten, unterstützten 31 konservative Abgeordnete die Politik der Regierung und stimmten 48 Tories gegen Mr. Wilson. Überdies drohte das Aushängeschild des reaktionären Flügels der Konservativen im Oberhaus, Lord Salisbury, die Parteidisziplin völlig durcheinander zu bringen. Damit war aber auch die einheitliche Einstellung der politischen Parteien gegenüber der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Rhodesiens gefährdet. Der Zwischenfall zeigte dem Oppositionsführer und dem Premierminister die Grenze des Nonplusultra in den Sanktionen gegen die abtrünnige Regierung Smith.

Der Zwischenfall offenbarte gleichzeitig das tiefe Dilemma Mr. Wilsons. Die öffentliche Meinung in Großbritannien findet sich gerade noch mit dem Ölembargo ab, eine bewaffnete Intervention lehnt sie hingegen ab, zum Teil natürlich als Folge der tendenziösen Berichterstattung der rechten Presse. Nach dem Ergebnis einer Meinungsumfrage billigte nur die Mehrzahl der Wähler unter 30 Jahren eine harte Linie gegen Mr. Ian Smith, welche die letzten Folgen einer solchen Politik mit einschließt. Und eben diese bewaffnete Intervention verlangen die afrikanischen Commonwealth-Länder.

Unruhe im linken Flügel

Der ungewöhnliche Zeitpunkt der Regierungsbildung und das Zusammentreffen mit der latenten Spaltung der Konservativen hat selbstverständlich Anlaß zu Spekulationen gegeben. Der zeitliche Zusammenfall beider Ereignisse dürfte allerdings reiner Zufall sein. Denn die Umbesetzung der einzelnen Ämter ist sicherlich schon vor der Amerikareise des Premierministers geplant gewesen. Denn schon seit längerer Zeit gärt es in der Arbeiterpartei und der linke Flügel wird zunehmend unruhig. Mit der Umbildung wollte Mr. Wilson die Initiative behalten. Denn Mrs. Castle, die als eine der prominenten Figuren der Parteilinken gilt, sollte in ihrem neuen Amt so beschäftigt sein, daß sie kaum Zeit für außerpolitische und Commonwealth-Fragen haben wird. Ob Mr. Wilson die Partei schon völlig unter Kontrolle hat, läßt sich gegenwärtig schwer feststellen. Man kann jedoch aus der begrenzten Natur der Regierungsumbildung schließen, daß der Premierminister alle Fäden in seiner Hand hält, da das innere Gleichgewicht der Partei aufrecht blieb; es kam also nicht zu einer Gewichtsverlagerung.

Für die Wahl des Zeitpunktes der Umbesetzung könnte freilich der Umstand entscheidend gewesen sein, daß die Regierung in verschiedenen Meinungstests einen sicheren Vorsprung vor den Tories aufweist. Schien noch vor zwei Wochen eine Neuwahl im Frühjahr eher unwahrscheinlich zu sein, so rückte eine solche durch die Umbildung durchaus in den Bereich des Möglichen. Denn der Premierminister wollte seinen Mitarbeitern in ihren neuen Ämtern genügend Zeit geben, sich mit ihren Aufgaben vertraut zu machen, damit sie in einem allfälligen Wahlkampf den bestmöglichen Eindruck hervorrufen.

Trotz den an der Oberfläche so günstigen Umständen, blickt das Kabinett Wilson schwierigen Zeiten entgegen, worüber der Vorsprung der Meinungstests nicht hinwegtäuschen kann. Wenngleich sicherlich die Rhodesienfrage weiterhin im Scheinwerferlichit stehen wird, sollten wirtschaftspolitische Fragen den Premierminister der unangenehmsten Prüfung unterziehen.

Stop-and-go-Poilitik

Mr. Wilson und die Sozialisten führten im Jahre 64 den Wahlkampf unter dem Motto eines beschleunigten Wachstums der britischen Wirtschaft. Außerdem warfen sie den Tories ihre sinnlose stop-and-go- Politik vor. Genau das, dessen sie die Konservativen bezichtigten, machten Mr. Wilson und seine Kollegen seit sie im Amt sind. Der Schatzkanzler legte dem Unterhaus ein überaus deflationistisches Budget vor, das heißt, es wurden die Steuern erhöht und die Ausgaben gedrosselt und der Diskontsatz und damit die Zinsen der Bankkredite empfindlich hinaufgesetzt. Die Regierung hat dadurch zwar die Zahlungsbilanz mehr schlecht als recht verbessern können, gleichzeitig jedoch die konjunkturellen Auftriebskräfte abgewürgt, wodurch sich das wirtschaftliche Wachstum verlangsamt hat. Der im September von Minister Brown vorgelegte Wirtschaftsplan sieht wohl eine jährliche Zunahme des Bruttonationalproduktes um rund vier Prozent vor, doch dürfte sie sich nicht ohne grundsätzliche Änderung des Verhaltens der Unternehmer, Arbeiter und Gewerkschaften verwirklichen lassen. Dafür sind freilich keine Anzeichen vorhanden. Im Gegenteil: eine Reihe von Gehaltsforderungen dürfte die Einkommenspolitik der Regierung vereiteln. Die Streitkräfte haben eine Erhöhung der Bezüge um 12,5 Prozent gefordert und von der Gehaltskommission gebilligt erhalten. Die Aussicht, daß die Gewerkschaften sich künftig mit der von Minister Brown vorgeschlagenen Lohnsteigerung von drei bis vier Prozent pro Jahr begnügen werden, ist dadurch sehr gering geworden. Damit aber wird sich ein fühlbarer Preisauftrieb, der mit vier Prozent bisher schon an der Toleranzgrenze lag, wohl kaum verhindern lassen.

Resignation der Tories?

Außerdem wird die lange anhaltende Deflation voraussichtlich die Arbeitslosigkeit steigern. Ob alle diese Umstände schon in den nächsten Monaten so spürbar werden, daß die Wähler sauer reagieren, läßt sich natürlich nicht Vorhersagen. Im Gegenteil: Sogar konservative Abgeordnete trauen dem Premierminister einen Erfolg in der nächsten Wahl zu und billigen ihm eine Mehrheit von etwa 20 bis 30 Mandaten zu. Diese innere Resignation der Tories und ihre Uneinigkeit über Rhodesien könnte sehr wohl diese Prophezeiung wahrmachen, da der britische Wähler gerne eine innerlich starke und entschlossene Partei an der Spitze sieht. Hinzu kommt, daß die Popularität des Premierministers Wilson immer noch zunimmt und ein Teil dieses Vertrauens sicherlich auch seiner Partei zugute kommen würde.

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