6739126-1966_34_06.jpg
Digital In Arbeit

Wilson im neuen Kabinett

Werbung
Werbung
Werbung

Wenige Stunden vor seiner Abreise nach den Scilly-Inseln hat Premierminister Wilson sein Kabinett umgebildet. Allgemein wartete man schon seit dem Vorjahr auf eine größere Regierungsumbildung; niemand wurde daher durch die Nachricht aus Downingstreet Nr. 10 überrascht. Um so mehr staunte man nach dem Studium der Änderungsliste, in welchem Maße der Premierminister bei seinen einmal gewähl-

ten Mitarbeitern festhält. Denn niemand wurde „in die Wüste geschickt“; einzelne Kabinettsmitglieder tauschten Amtstitel und Amtssitz. Den Hauptzweck der eher bescheidenen Umbildung erblickt man hier in London in dem Versuch Harold Wilsons, einige Politiker der innerparteilichen Kritik zu entziehen, die in den letzten Tagen zunehmend um sich griff.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gab der Premierminister folgende Änderungen bekannt (in Klammer jeweils das frühere Amt): Mr. George Brown — Außenminister (Wirtschaftsminister),

Mr. Michael Stewart — Wirtschaftsminister (Außenminister),

Mr. Richard Crossman — Mehrheitsführer im Unterhaus (Wohnungsminister),

Mr. Herbert Bowden — Commonwealthminister (Mehrheitsführer im Unterhaus),

Mr. Arthur Bottomley — Minister für überseeische Entwicklung (Commonwealthminister),

Mr. Anthony Greenwood — Wohnungsminister (Minister für überseeische Entwicklung).

Schon in den ersten Augusttagen berichtete zunächst der „Observer“ von einem bevorstehenden Wechsel im Kabinett. Der innenpolitische Kommentator dieses angesehenen unabhängigen Blattes meinte, Mr. Wilson würde Anfang September seine Regierung umbilden, und zwar in einer sehr weitreichenden Form. Neben George Brown, Michael Stewart, würden auch James Cal- laghan und Roy Jenkins andere Ämter bekommen. Die „Financial Times“ wußte am 8. August von einer Verärgerung des Premierministers über diese Spekulationen; vor allem soll sich sein Unmut gegen den Schatzkanzler Callaghan gerich-

tet haben, der einem Korrespondenten des „Guardian“ freimütig zu verstehen gab, daß er gern Außenminister würde. Im übrigen glaubte auch die „Financial Times“ an eine einschneidendere Kabinettsumbildung als dann tatsächlich erfolgt ist. Die veröffentlichten Gerüchte haben zweifellos die Entscheidung Harold Wilsons beschleunigt. Irgendeinen Einfluß auf die Natur der Umbildung hatten sie dagegen nicht.

Erwartet wurde allgemein die Ablösung von George Brown als Wirtschaftsminister; eine solche Maßnahme fand man bei einem Minister nur zu natürlich, der über den ein- geschlagenen wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung Wilson fast zurückgetreten wäre; es wäre ihm schließlich kaum zumutbar gewesen, als Minister diesen Kurs persönlich zu vertreten und gegen den Widerstand der Gewerkschaften durchzukämpfen. Außerdem munkelte man schon Mitte Juli, daß der Premierminister dem Wirtschaftsminister das Außenministerium angeboten habe, um diesen zu einem Verbleib in der Regierung zu bewegen. Was immer auch die Hintergründe für diesen Wechsel sein mögen, George Brown wird auch in seiner neuen Eigenschaft als Außenminister den inoffiziellen Titel eines stellvertretenden Premierministers führen und eine Schlüsselfigur der sozialistischen Regierung bleiben.

Obzwar Überlegungen über die außenpolitische Linie des neuen Mannes vielleicht als zu verfrüht erscheinen mögen, seien doch einige Anmerkungen erlaubt. Die Zeit der „großen“ Außenminister, die durch die Namen Curzon, Baldwin, Eden und Benin gekennzeichnet ist, dürfte vorbei sein. Ernest Bevin etwa konnte im Kabinett über die Außenpolitik ziemlich uneingeschränkt verfügen, weil Attlee sich dafür kaum interessierte. Anders ein Harold Wilson, der seit seiner Amtsübernahme im Herbst 1964 häufig als sein eigener Sonderbotschafter handelte und Michael Stewart die Rolle eines Erfüllungsgehilfen überließ. (Eine solche Erscheinung ist freilich in der britischen Geschichte kein Einzelfall: der Premierminister des 19. Jahrhunderts bestimmte zum Beispiel auch die Außenpolitik völlig.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung