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Die ersten 100 Tage

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Weiter dürfte die augenblickliche wirtschaftspolitische Lage die neue Regierung vor ein großes Dilemma stellen. Der sozialistische Wahlerfolg wurde am Freitag von ausländischen Wirtschaftskreisen mit dem Abruf von Guthaben aus London in der Höhe von 25 Millionen Pfund Sterling beantwortet. Wenngleich es Premierminister Wilson und seinem Schatzkanzler Callaghan gelingen sollte, durch Rückgriff auf die Stand-by-Kredite des Internationalen Währungsfonds eine massive Spekulation gegen das Pfund abzuwehren, wird er unter Umständen doch eine Erhöhung der Bankrate nicht vermeiden können. Ein solcher Schritt würde seine Regierung vor die Frage stellen, wie sie die im Wahlmanifest versprochenen besonders niedrigen Zinssätze für Eigenheimbewohner, Baugenossenschaften und Kommunalbehörden trotz eines gestiegenen Diskontsatzes verwirklichen könne. Überdies ist der Premierminister an sein, in zahlreichen Reden gegebenes Versprechen gebunden, in den nächsten hundert Tagen mehr dynamische Entscheidungen zu treffen als die Konservativen in den vergangenen dreizehn Jahren. Dem Publizisten James Margach von der „Sunday Times“ erklärte Premierminister Wilson in einem Gespräch; „Ich würde es gern sehen, wenn jedes" Kabinett, dessen Mitglied ich war, in die Geschichte als große

Reformregierung eingeht.“ Dennoch dürfte Premierminister Wilson in den nächsten Monaten eher eine zögernde Haltung einnehmen, was sich aus seiner Erklärung ableiten läßt: „Man muß die ersten Jahre auch als Zeit für Experimente verwenden, um dann, wenn die Zeit kommt, notwendige Änderungen um so skrupelloser durchzuführen.“

Die demokratische Reife des britischen Volkes und seiner Politiker erweist sich wieder in ihrer festverankerten Überzeugung, daß jede Partei, welche Parlamentswah- len gewinnt, Anspruch auf allgemeine Unterstützung erheben darf, wenn sie ihr Programm verwirklicht. Die neue Labourregierung mit ihrer hauchdünnen Mehrheit wird solche Unterstützung sicherlich in gutem Maß benötigen, und zwar mehr als nur moralische Unterstützung. Premierminister Wilson zog in Dcrwningstreet Nr. 10 zu einem Zeitpunkt ein, der mit der Verbannung Chruschtschows und der Explosion der chinesischen Atombombe zusammenfiel. Nur parteipolitische Fanatiker dürften unter diesen Umständen Harold Wilson als dem neuen Premierminister von Großbritannien die Unterstützung versagen, die er verdient. Es wird an Mr. Wilson liegen, sich dieses Vertrauensvorschusses als würdig zu erweisen, besonders als Führer einer Partei mit umstrittenen innenpolitischen Zielen.

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