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Vernunftzeitalter in England?

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Das erste richtige Budget des Kabinettes Wilson hat sicherlich in der überregionalen Presse des Landes, in den Blättern von Format wie in den Boulevardzeitungen, reichliche Beachtung gefunden. Fachzeitungen wie zum Beispiel die „Financial Times“ hatten schon Wochen vor der Budgetrede des sozialistischen Schatzkanzlers James Callaghan vom 4. April die Aufmerksamkeit der Leser auf dieses Ereignis gelenkt. Wer auf Grund dieser Publicity glaubte, der „Mann von der Straße“ werde durch Budgetfragen besonders gefesselt, gäbe sich allerdings einer Selbsttäuschung hin. Im Mittelpunkt des Interesses der „Durchschnittsengländer“, wenn es dieses Phantasiegeschöpf der Publizisten überhaupt gibt, standen verschiedene Ereignisse, bei vielen Engländern zweifellos die letzten entscheidenden Runden der Fußballmeisterschaft und die Pferderennen; die kulturell Ambitionierten (die „high-brows“) sprachen vielleicht über das letzte Stück von John Osborne oder die außerordentliche Aufführung des „Kaufmannes von Venedig“ mit Eric Porter in der Titelrolle. Wahrscheinlich verbitterten sich auch die Mienen der Raucher, Gelegenheitstrinker und Autofahrer, als sie von Erhöhungen der Verbrauchssteuer für Tabakwaren und alkoholische Getränke sowie der Kraftfahrzeugsteuer hörten. Um die Frage allerdings, ob das Budget expansionistisch, deflationistisch, reflationl-stisch ist oder wie die Bezeichnungen sonst heißen mögen, kümmerten sich die englischen Wahlstandsbürger wenig. Für viele Briten besteht das Budget überhaupt nur in dem alljährlich vom Fernsehen übertragenen Schauspiel, in dem ein Mann mit Streifhose und Zylinder zu Fuß von Whitehall (dem Schatzamt) nach Westminster zum Parla-mentsgebäude wandert und aus traditionellen Gründen einen kleinen Lederkoffer mit sich trägt — eben das Budget.

Die Fachleute haben dem Budget Mr. Callaghans hingegen mit großem Interesse entgegengeblickt und diskutierten es seither eifrig. Würde die sozialistische Regierang das Wahlversprechen vom vergangenen Herbst einlösen und den öffentlichen Haushalt so gestalten, daß er ein stetiges Wirtschaftswachstum mit der wundersamen Fortschrittsrate von vier Prozent pro Jahr fördert? Haben die Männer um Harold Wilson das Heilmittel für die „Krankheit der britischen Wirtschaft“, nämlich geringes Wachstum bei gleichzeitiger schleichender Inflation und regelmäßig wiederkehrenden Zahlungsbilanzkrisen, gefunden? Oder sind doch die Verhältnisse stärker und zwingen auch die Labour Party auf die gleiche oder zumindest ähnliche Bahn, auf der sich die Konjunkturpolitik der konservativen Regierungen während der letzten 13 Jahre bewegt hat? Auf diese drei Fragen lassen sich die meisten Fragen in den vielen Diskussionen der ökonomisch Interessierten vor der Budgetrede reduzieren. Seit der Rede Mr. Callaghans vor dem Unterhaus stehen vielfach die Körperschaftssteuer und die geänderte Kapitalgewinnsteuer im Vordergrund der Debatte.

Die eingeschlagene budgetpolitische Linie scheint auf den ersten Blick die Bezeichnung „sozialistisch“ zu rechtfertigen. Denn der Schatzkanzler änderte zunächst die Kapitalgewinnsteuer in einer solchen Weise ab, daß ihr künftige Kapitalgewinne kaum entgehen werden. Sodann kündigte er eine Körperschaftssteuer in der Höhe von „nicht mehr als 40 Prozent“ an und strich Restaurant- und Nachtklubspesen von der Liste der abzugsfähigen Posten; schließlich schaffte er die begünstigte Abschreibung für Firmenautos ab. Gewiß, diese Maßnahmen entspringen zu einem großen Teil einer egalitären Ideologie, die in der Arbeiterpartei weit verbreitet ist, dürften aber auch in den an Bedeutung gewinnenden höheren Angestelltenschichten durchaus populär sein. Dennoch würde dieser erste Blick täuschen: er erfaßt nämlich nur die Fassade. Hinter ihr verbirgt sich ein Haushaltsvoranschlag, wie ihn die Tories nicht „konservativer“ hätten entwerfen können. Mr. Callaghan gestaltete sein Budget deflatorischer als je ein konservativer Schatzkanzler zwischen 1951 und 1964 es wagte. Sein Voranschlag wird voraussichtlich einen Rückgang der inländischen Nachfrage um mehr als 500 Millionen Pfund Sterling im Finanzjahr 1965/66 und fast 600 Millionen Pfund Sterling in 1966/67 bewirken. (Mr. Selwyn Lloyd hat 1961 sich mit einem Nachfrageentzug von 210 Millionen Pfund Sterling begnügt; trotzdem wurde er zum vielgehaßten Politiker.) In welchem Maß die sozialistische Regierung die Schraube anzog, geht am besten aus folgender Übersicht hervor:

Laufende Gebarung Voranschlag Voranschlag 1964/65 1965/6

Millionen Pfund

Steuereingänge 7169 8199

Versoh. Eingänge 711 827

Summe der Eingänge 7880 9026

Einnahmenüberschuß 88 544

Schuldenoperationen 791 767

Während die Tories im letzten Finanzjahr die Kreditoperationen um 703 Millionen Pfund Sterling höher als den Einnahmenüberschuß des ordentlichen Haushaltes vorsahen, hat Mr. Callaghan diese Differenzierung auf 223 Millionen Pfund Sterling verringert. Die restriktive Wirkung wird durch den Abbruch der Arbeiten an neuen Flugzeugtypen für die RAF (TSR 2!) noch verstärkt.

Noch imimer ist ein Finanzminister von allen Seiten, wenn auch aus verschiedenen Gründen, kritisiert worden, wenn er die konjunkturellen Auftriebskräfte dämpfte. Mister Callaghan erging es nicht besser. Dem Beifall, den die linksstehende Zeitschrift „New Statesman“ spendete, indem sie feststellte, daß „das Budget für James Callaghan ein persönlicher Triumph ist... Es gelang ihm, die Zweifel der ausländischen Bankiers zu zerstreuen und die warme Zustimmung der Gewerkschaften zu ernten“, wurde kaum sekundiert. Am neutralsten kennzeichnet noch der „Economist“ das Budget mit „experimentell in seinen komplizierten technischen Einzelheiten, aber vorsichtig und konservativ in seinem allgemeinen konjunkturpolitischen Ziel“. Überwiegend aber erntet Mr. Callaghan harte Kritik, die in einigen Fällen in Gehässigkeiten ausartete. Man wirft ihm vor, daß die Kapitalgewinnsteuer und die Körperschaftssteuer überflüssig seien und sie außerdem das Investitionsklima verdürben. Das Budget müsse, milde ausgedrückt, als unternehmerfeindlich bezeichnet werden.

Neben diesen eher interessenpolitischen Einwänden wiegt ein anderer Vorwurf schwer. Das Budget der Labour-Regierung sei ebenso wie die frühere konservative Fiskalpolitik ausgesprochen kurzfristig ausgerichtet. Die langfristigen, waohstuimspolitischen Aspekte vermisse man. Es genüge nicht, die inländische Nachfrage zu drosseln und damit einen Teü des Güterangebotes für den Export freizubekommen, ohne gleichzeitig mit aktiven Mitteln die Ausfuhr anzuregen. Deshalb sagen schon jetzt die Fachleute voraus, daß im nächsten Jahr eine Rezession unvermeidlich wäre; sie würde aber mangels langfristiger Maßnahmen nicht eine dauerhafte Lösung des Zahlungsbüanzproblerns bringen. Und solange diese Frage ungelöst bleibt, könne die Wirtschaft nicht mit der erwünschten Rate von vier Prozent jährlich wachsen, weil die Aufschwünge immer wieder wegen Sterlingkrisen abgewürgt werden müßten.

Wer sich in den letzten Wochen mit dem britischen Budget beschäftigte, hörte immer wieder ein Bonmot: England wird von zwei Ungarn regiert: Thomas Balogh, dem Wirtschaftsberater des Premierministers, und Nicholas Kaldor, dem Berater Schatzkanzler CaiUaghans. Auf Kaldor sind die Finanzkreise Londons besonders böse, weil man die Körperschaftssteuer seinem Einfluß zuschreibt. Man verstünde jetzt, wieso Mr. Kaldor in einem seiner letzten Aufsätze sich beklagt habe, daß seine ehrlichen Absichten auf seinen Missionen ihm nur den Haß der Millionäre in den Entwicklungsländern eingetragen habe. Trotz seiner Uhbeliebtheit in bestimmten Kreisen dürfte Mr. Kaldor nach Ansicht vieler Nationalökonomen der richtige Mann auf dem richtigen Platz sein. In der Fachwelt ist er schon seit langem durch seine wissenschaftlichen Aufsätze bekannt. Seinem Wirken schreibt man auch den konstruktiven Schritt zu, künftig die Auslandsinvestitionen britischer Unternehmen zu drosseln, um von dieser Seite die Zahlungsbilanz zu entlasten.

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