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Als ich in der Silvesternacht, von der Oper kommend, in einem Taxi über den Trafalgar Square und am Parlament von Westminster vorbeifuhr, vermittelte mir diese Fahrt Eindrücke von recht verschiedener Art. Da war zunächst Trafalgar Square selbst, dieses Juwel im Herzen Londons, würdiges Zentrum eines Empires, zum Bersten erfüllt von Tausenden fröhlicher Menschen, die traditionsgemäß hierher gekommen waren, um in der lauen Nacht den Anbruch des neuen Jahres zu erwarten. Auch mein Taxifahrer war bester Laune, und als er sich gutmütig lachend langsam den Weg bis zum Parlament gebahnt hatte, schlug es vom Big Ben herunter gerade Mitternacht. Der Taxler und mit ihm alle anderen Autofahrer ließen laut und anhaltend ihre Hupen ertönen, die sonst so strengen Polizisten vor dem Parlament winkten und lachten, und das Jahr 1975 hatte heiter und sorglos seinen Einzug in London gehalten.

Das Autoradio hatte bisher muntere Weisen gespielt, nun wühschte der Sprecher allen Hörem ein gutes Neujahr und kündigte dann die Mittemachtsnachrichten an. Aber da verdüsterte sich schlagartig das lächelnde Gesicht meines Fahrers, mit einer heftigen Bewegung drehte er das Radio ab und sagte mit echtem Abscheu in der Stimme: „Um Himmels willen, das wollen wir jetzt wirklich nicht hören!”

Man kann es dem Mann und mit ihm allen Engländern zwar kaum verübeln, wenn sie nach einem Jahr mit zwei Wahlkämpfen und vier Budgeterklärungen, ganz zu schweigen von Wirtschaftskrise und von Bombenexplosionen, der Politik ein wenig müde geworden sind, wenn sie wenigstens in der Silvesternacht nichts von drohenden Voraussagen, steigenden Preisen und ‘ von Nordirland hören wollen. Aber es nützt nichts, diese Probleme sind nun einmal da, und sie werden nicht nur weiter mit uns sein, sie werden 1975 sogar noch schwerer, noch drückender werden, bevor sie — vielleicht — einer einigermaßen befriedigenden Lösung zugeführt werden können, und nichts könnte gefährlicher sein als der hierzulande leider manchmal erkennbare Morgensternsche Standpunkt, „daß nicht sein kann, was nicht sein darf”, daß England nicht untergehen wird, weil die Welt das schließlich nicht zulassen kann (oder darf).

Fassen’ wir doch einmal kurz zusammen, was das vergangene Jahr für Großbritannien bedeutet hat. Es begann gleich im Jänner mit der schweren Konfrontation zwischen der Regierung Heath und den Bergarbeitern, die zur Dreitagewoche und temporär zu 2,25 Millionen Arbeitslosen führte. Das äußere Resultat war ein Rekordhandelsdefizit für Jänner von 383 Millionen Pfund, die tiefer greifende Konsequenz war die Ausschreibung von Neuwahlen für den 28. Februar und der Sturz der konservativen Regierung, die mit den Liberalen keine Einigung über eine eventuelle Koalition erzielen konnte. Der Bergarbeiterstreik konnte Anfang März beendet werden, aber die Kumpels hatten eine gefährliche Lektion gelernt — auch Regierungen können von einer militanten Großgewerkschaft überwunden werden.

In Nordirland war Anfang Jänner das im Jahre 1973 mühsam errichtete Gebäude der neuen Provinzexekutive unter Brian Faulkner zusammengestürzt, die Krise war akuter und chaotischer als zuvor, der Extremismus der 1RA wurde mit gleicher Münze von militanten protestantischen Kreisen beantwortet; der Generalstreik protestantischer Arbeiter führte im Mai zur erneuten Direktregierung der nordirisdien Provinz von London aus. Die Bomben begannen wieder zu explodieren, in steigendem Maße auch in England, beginnend mit einem Sprengstoff attentat į auf die Londoner Westminster Hall beim Parlament, wo elf Menschen verwundet wurden.

Die Folgen der Dreitagewoche, die steigenden Weltpreise und die immer teurer werdenden Erdölimporte trieben Inflation und Handelsdefizit mit trauriger Regelmäßigkeit weiter voran, immer neue renommierte Unternehmen fielen der Bargeldknappheit zum Opfer, angefangen von der Schiffahrts- und Tourismus firma Court Lines, deren Bankrotterklärung im August rund 100.000 Briten um ihre schwerverdienten Urlaube brachte. Auch die bei den Neuwahlen im Oktober mit einer Mehrheit von drei Sitzen bestätigte Labourregie- rung und ihr hoffnungsvoller Sozialkontrakt mit der Gewerkschaftsbewegung vermochte das fallende Pfund Sterling, die Inflation und den Vertrauensverlust in der Industrie nicht aufzuhalten; das Handelsdefizit für November betrug schon 534 Millionen Pfund, die offizielle Inflationsrate beträgt 19 Prozent, und zu Weihnachten gab eine der renommiertesten englischen Autofirmen, Aston- Martin, ihre Zahlungsunfähigkeit bekannt.

Und zu all dem wurden allein in den Monaten Oktober bis Dezember durch Bombenexplosionen in England 26 Menschen getötet und rund 190 mehr oder weniger schwer verletzt.

Diese recht unerfreuliche Bilanz macht nur zu klar, daß im Jahre 1975 von der britischen Regierung und vom britischen Volk eine Reihe schwerwiegender und wohl auch harter Entscheidungen getroffen werden muß. Die Empire-Vergangenheit muß ein für alle Male überwunden, der Weg in eine europäische Zukunft als Gleicher unter Gleichen muß entschlossen eingeschlagen werden. Die alten britischen Tugenden der Disziplin im Verein mit einer bulldoggenartigen Zähigkeit müssen neu belebt werden, und jeder einzelne Brite, an der Werkbank und im Aufsichtsrat, wird sich in diesem Jahr häufig und regelmäßig die Frage stellen müssen: „Tue ich genug für mein Land?”

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