Ein Tag, länger als ein Leben

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Der Terror hat die britische Metropole erreicht. Aber London widersteht: Denn ein Londoner zu sein, heißt immer auch, bleiben zu können, was man war.

Wie dicke Watte hatte sich eine gespenstische Stille über die Stadt gelegt. Wo sonst rote Doppeldeckerbusse und schwarze Taxis durch die Häuserschluchten donnern, waren auf einmal nur mehr Fußgänger unterwegs. Sie waren sehr ruhig, sehr gefasst und sehr geschockt. Erst hier, auf den Straßen der Londoner City, wurde auf einmal Wirklichkeit, was man zuvor am Fernsehschirm mitverfolgt hatte.

Der lange befürchtete Terroranschlag gegen London hatte die britische Hauptstadt am vergangenen Donnerstag um 8 Uhr 50 getroffen.

Ein grauer Himmel hing an diesem Morgen über der Stadt. Wie immer strömten die Londoner zu den U-Bahnstation, um in die Arbeit zu fahren. Mehr als drei Millionen Menschen benützen jeden Tag die Londoner "Tube", deren Fahrgäste oft allen Grund haben, Sardinen in der Büchse um ihre großzügige Unterbringung zu beneiden.

Nach der Olympiafreude

Am Tag zuvor, und oft noch bis spät in die Nacht, hatte London mit geradezu südländischer Freude die Zuerkennung der Olympischen Spiele 2012 gefeiert. Nun, Donnerstag früh, war die Information über eine weit reichende U-Bahnstörung für viele die Rückkehr in den Alltag. Sie nahmen es mit einem Schulterzucken und Humor: "So ein Glück. Wenn das gestern passiert wäre, hätten sie uns nie die Olympischen Spiele gegeben", scherzte Anthony Martin noch mit einer Kollegin, als er kurz vor neun Uhr seine Bank in der Nähe des Bahnhofs Liverpool Street betrat.

"Etwas Ernstes passiert"

Als wenig später Sirenen durch die Straßen hallen und Hubschrauber immer tiefer über der City kreisen, steigt manchen aber ein erstes mulmiges Gefühl auf. "Da dachte ich mir, es ist etwas Ernstes passiert", erinnert sich Jaswanth Singh. "Das konnte nicht einfach nur ein Kurzschluss sein, wie das Fernsehen berichtete.

Offenbar hatte es irgendwo zumindest Verletzte gegeben. Aber ich behielt das für mich. Weder wollte ich meine Kollegen beunruhigen, noch den Teufel an die Wand malen."

Es sei nicht eine Frage ob, sondern wann London zum Ziel eines Terrorangriffs würde, hatte der frühere Polizeichef der britischen Hauptstadt, Sir John Stevens, im Vorjahr zum Abschied gewarnt.

Dieser Tag war nun gekommen.

Im dichtesten Stoßverkehr explodierten gleichzeitig Bomben in einem Zug der Piccadilly Line zwischen King's Cross und Russell Square, einem Zug der Circle Line zwischen Edgware Road und Paddington und einem weiteren Zug der Circle Line zwischen Liverpool Street und Aldgate.

Um 9 Uhr 47 riss dann eine gewaltige Detonation im Obergeschoss einem Bus der Linie 30 auf dem Tavistock Square das Dach und die oberen Sitzreihen weg. 52 Tote hat die Polizei bisher bestätigt, 30 Menschen werden weiterhin vermisst, mehrere Dutzend sind noch in Spitalspflege.

Überlebende Augenzeugen berichteten von dramatischen Szenen: "Wir kämpften uns an blutverschmierten, verstümmelten und schreienden Menschen vorbei ins Freie", erzählt Michael Henning, ein 39-jähriger Versicherungsbroker. "Als wir in Aldgate ans Tageslicht kamen, schrie ich die wartenden Rettungsleute an: Macht schnell, da unten liegen Menschen und verrecken.'" Aus Angst vor einer weiteren Bombe konnten die Notfalldienste zunächst aber nicht sofort eingreifen.

Das gefürchtete T-Wort

Für die hunderttausenden Londonern, die an ihren Arbeitsplätzen das Drama auf den Fernsehschirmen mitverfolgten, entfaltete sich der Ablauf der Katastrophe schrittweise.

Innenminister Charles Clarke war der Erste, der von Anschlägen sprach, doch es oblag Premierminister Tony Blair zur Mittagszeit als Erster das von allen gefürchtete T-Wort auszusprechen: "Es ist über jeden vernünftigen Zweifel hinweg klar, dass in London eine Serie von Terroranschlägen verübt worden ist."

Als Blair von Terror spricht und den Namen El Kaida nennt, stöhnen viele auf. Ein rascher Blick des Entsetzens, dass wahr geworden ist, von dem alle hofften, dass es nicht geschehen würde: Der Terror hatte London erreicht.

Doch der Terror hat London nicht besiegt.

Als die Londoner sich am Abend der Anschläge durch ihre so ungewohnt stille Stadt auf den Heimweg machten und der Ernst des Geschehenen langsam einsickerte, war überall ein Gefühl der Einigkeit und Gemeinsamkeit greifbar. 40 Prozent der rund acht Millionen Einwohner Londons sind nicht hier geboren. Die ganze Welt lebt in dieser Stadt. Wenn Blair von den Anschlägen als "Angriffe, auf unsere Art zu leben" sprach, meinte er genau dieses Zusammenleben der Menschen von Afghanistan bis Zypern, die hier ein Zuhause gefunden haben.

Denn ein Londoner zu sein, heißt immer auch, bleiben zu können, was man war. "Ich war immer stolz, dass wir in Respekt, Harmonie und Freundschaft zusammenleben", sagt Reverend Alan Green, Vorsitzender des Interreligiösen Rates, im Gespräch mit der Furche. Gemeinsam mit Abdul Bari, dem Vorsitzenden der East London Mosque, hat er gerade eine gemeinsame Erklärung der Glaubensgemeinschaft zu den Terroranschlägen veröffentlicht.

"Seit 300 Jahren sind wir eine Einwanderergesellschaft. Immer wieder haben wir Bedrohungen erlebt. Aber wir haben eine starke und stolze Geschichte des Zusammenlebens. Wir dürfen uns den Geist der Offenheit und Toleranz nicht von jenen nehmen lassen, die Angst und Chaos verbreiten", sagt Green.

Weiter im Geist der Toleranz

Unmittelbar nachdem der erste Verdacht über die Urheber der Anschläge auf islamische Extremisten gefallen war, besuchte der anglikanische Bischof von Stepney die Ostlondoner Moschee, um ein Zeichen zu setzen. "Der Glaube ist ein Instrument des Zusammenlebens, der gemeinsamen Werte und der Gerechtigkeit. Der Glaube darf niemals ein Mittel sein, um Hass zu verbreiten", sagte Bischof Stephen Oliver. Eindringlich warnten er und viele andere vor Vergeltungsakten gegenüber muslimischen Mitbürgern. Bari berichtet allerdings von tausenden Hass-Mails, die sein Islamisches Zentrum in den letzten Tagen bekommen habe. Auf mehrere Moscheen außerhalb Londons wurden zudem Übergriffe gemeldet.

Muslimische Millionenstadt

Rund eine Million Muslime leben in London, fast zwei Millionen in ganz Großbritannien. Es besteht kein Zweifel, dass die überwiegende Mehrheit gesetzestreue Bürger sind, die mit Extremismus nichts zu tun haben und stattdessen den Traum des gesellschaftlichen Aufstiegs zu Wohlstand und Anerkennung durch harte Arbeit leben. Ebenso wenig ist es ein Geheimnis, dass viele von ihnen über den Irak-Krieg verbittert sind. Hassprediger wie der radikale Kleriker Abu Hamza, der seit mehr als einem Jahr in Auslieferungshaft sitzt, versuchen das für ihre Zwecke zu nützen. Die Behörden gehen mittlerweile davon aus, dass die Anschläge von britischen Tätern begangen wurden. Sie warnen auch, dass weitere Taten unmittelbar bevorstehen.

Doch die Attentäter werden nicht siegen. Diese Antwort hat London ihnen in den vergangenen Tagen macht- und würdevoll gegeben. Am Höhepunkt der deutschen Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs schrieb der Schauspieler, Dramatiker und Komponist Noel Coward das unsterblich gewordene Lied "London Pride". Darin heißt es: "Jeder Schlag wird unseren Widerstand noch stärken. Das ist der Stolz Londons."

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