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England, zehn Jahre nach Dünkirchen

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Es ist augenblicklich in England Mode, sich Fische zu halten; nicht die goldschuppigen Tierchen unserer Kindheitsteiche, sondern zartere, wie beseelte Farbschleier wirkende Gebilde, Ubergänge von Bewegung zur Körperlichkeit. Betrachtet man sie eingehender, will es einem scheinen, daß dieses Vibrieren, Zucken, Bald-da-, Bald-dort-Sein keinesfalls fröhlich ist, daß sie Unruhe oder gar Angst erfüllt.

Aber dies ist wohl nur die Projektion des menschlichen Zustandes von Zeit-und Weltangst ins Animalische, vielleicht macht einen die intensive Beschäftigung der englischen Literatur mit diesem Phänomen — Auden hat sein letztes, großes Gedicht „The age of anxiety“ genannt — übersensibel. Dabei ist dieser Furchtkomplex auf den britischen Inseln sehr viel weniger fühlbar als auf dem Festland. Ist das Gefühl hier tiefer gelagert, beherrschter? Vielleicht. Vor allem aber hat es anderen Charakter. Will man sich an das schwer Erfaßbare mit Worten herantasten, so könnte man sagen, daß man in England fürchtet, die Schiffe könnten sich von den vertrauten Ankerplätzen reißen und man würde hinausgetrieben werden in gnadenlose Ferne. In Frankreich aber herrscht die Vorstellung, längst zu treiben, die Furcht zu 2er-schellen, die Hoffnung, endlich doch Land zu finden. Dieser Unterschied ist auch die Grundierung politischer Meinungsverschiedenheiten: wenn die Engländer noch rasch ein Tau um einen Pfosten wickeln wollen, dann scheint es den Franzosen wichtig, alle Segel zu setzen, um in irgendeine am Horizont aufgetauchte Bucht einlaufen zu können ...

Im übrigen sind solche Gefühle nie isoliert, stets in eine Vielfalt von Strömungen gebettet, ohne sie unverständlich. Hier aber zeigt sich wieder, daß der britische Lebensrhythmus ein ganz anderer ist als der kontinentale. Während die Franzosen mit ihrem weltgeschichtlichen Katzenjammer fertig zu werden scheinen, macht sich in Großbritannien eine „malaise“ bemerkbar, ein Zustand von Unsicherheit, Entschlußlosigkeit und mangelnder Konzentration, der durch die labile Unterhausmehrheit mehr illustriert als erklärt wird.

Sommer: 1950! Zehn Jahre nach Dünkirchen, Monate, in denen jeder Tag wie das Stichwort eines Leitartikels anhebt:

Die Evakuierung aus dem nordfranzösischen Hafen, die Tage von Bordeaux, die Kapitulation von Vichy, das Gräßliche von Oran, das Glorreiche der Luftkämpfe über den englischen Grafschaften.. ,

Aber durch alle diese Daten, Worte, Begriffe, durch das nächtliche Aufjaulen der Sirehen, durch die Glocken von Alamein und den Jubel von „V-Day“, vom .Siegestag“, klingt immer wieder dunkel und schwer das Lautbild „Dunkirk“ durch. Denn mit Dünkirchen begann ein neuer, sich deutlich aus dem Zeitraum hebender Abschnitt, der nun allmählich zu Ende gekommen ist, begann eine soziale Kettenwirkung, die 1945 die konservative Unterhausmehrheit zerstörte. Dünkirchen: das war die militärische Exemplifizierung der völligen Hilf- und Ratlosigkeit einer Führungs-schichte, an die man bisher geglaubt hatte. Daß die Reaktion der über 300.000 heimkehrenden Soldaten, eine Reaktion, die bald in allen Adern und Äderchen des Volkskörpers drang, nicht antipatriotisch war, sich nicht aeaen die Reaieruna riehfete, daß ein anderer konservativer, Winston Churchill, emotionale Riesenkräfte mobilisieren und lenken konnte, all das hat viele Beobachter getäuscht. Aber dieselben Gewalten, die Churchill zum Sieg trugen, haben auch seinen Sturz herbeigeführt.

„A time for greatness“ hieß der Titel eines in den, ersten Nachkriegsjahren erschienenen Buches. „Eine Zeit für Größe“... und das war sie denn auch. Denn trotz der Monotonie des Alltags lebte das Volk seit Dünkirchen zwar in keiner „Hochstimmung“, aber doch in einer Art „hohen Bereitschaft“, in einem nur aufgeschobenen Aufbruch. Es war ein Zustand, in dem sich der einzelne trotz Mühsal und Bedrückung dem Neuen erschließt, zu Opfern und Wagnissen bereit ist. Mächtige Impulse schienen der Masse zu entströmen, und für eine Weile konnte die Labourregierung diese Strahlen wie mit einer Brennlinse sammeln und die neu entstandenen politisch-ethischen Kraftfelder koordinieren. Ward je in so kurzer Zeit ein solcher Berg gesetzgeberischer Arbeit bewältigt worden? Da und dort unüberlegt, überstürzt, mag sein ... aber bei allen Fehlern bleibt noch immmer ein wahrhaft imponierender Gesamteindruck. Gleichzeitig mußte noch ein Reichs- und Staatsumbau durchgeführt werden, der in solchen Dimensionen bisher noch immer ein Ubermaß an Blut und Tränen gekostet hatte.

Aber diese große Reformzeit ist nun abgeschlossen, eine Zäsur ist eingetreten, ganz gleich, ob nun Labour noch einmal an die Macht kommen wird oder nicht. Ja, im gewissen Sinn wirkt die Regierung der Arbeiterpartei schon heute überlebt, beinahe ein Anachronismus: krank und müde wie Bevin, farblos wie Attlee, welk wie Dalton. Es ist wahr, auch bei den letzten Wahlen haben sich breite Massen, und keinesfalls allein die Industriearbeiter, um die Fahnen des Transport-house geschart. Aber 1945 war es etwas Missionäres, Sozialist zu sein, man wählte Labour, weil man bereit war, etwas zu wagen, einzusetzen und zu v e r-1 i e r e n. Diesmal wählte man Labour, weil man nichts verlieren will, weil man eich an die Segnungen des Wohlfahrtsstaates gewöhnt hat. Hier soll nichts über die weiteren Zukunftsperspektiven des britischen Sozialismus ausgesagt werden. Aber es ist offenbar geworden, daß seine gegenwärtige Führungsschichte sich verbraucht hat und keinesfalls ein zweitesmal mit der Riesenaufgabe, die sie seit dem Sommer 1945 bewältigt hat, fertig werden könnte. Gleichzeitig aber ist die Stimmung „hoher Bereitschaft“ im Erlöschen, die Stimmung, die Attlee emporgetragen und stark gemacht hat. Was ist an ihre Stelle getreten? Zunächst eine vielleicht schon überfällig gewesene Renaissance des privaten Lebens. Die Regierung hat übrigens dieser Strömung ohne allzuviel doktrinäres Bedenken Rechnung getragen: die Bestimmung, wonach alle Reparaturen über 10 Pfund genehmigungspflichtig sind, wurde ebenso fallengelassen wie die Benzinrationierung, vor allem aber wurde zum erstenmal der rein privaten Bautätigkeit ein weiteres Feld eingeräumt. Wer nach längerer Abwesenheit wieder englischen Boden betritt, dem werden die ersten leisen Anklänge an Luxus auffallen, und ein Gals-worthyscher Unterton der Atmosphäre. Hätte man sich noch vor zwei oder drei Jahren in beinah jedes Gespräch in Bahn oder Autobus einschalten können, da sein Thema aligemein war, oder doch Allgemeines betraf, so kann man heute an fast keinem mehr teilhaben. Indes ist es nicht ganz einfach, Rückkehr und Heimweh nach dem Viktorianischen. Das Gefühl für die Größerer Stunde, für den kritischen Augenblick der Weltgeschichte ist noch nicht erloschen, man weiß nur entweder ebensowenig damit anzufangen wie Whitehall, oder reagiert nicht mehr einheitlich kollektiv darauf. Wenn man auf langvergessene Freuden zurückgreift, dann ist es oft mit jenem leisen Schuldgefühl puritanischer Abstammung, das für die britische „malaise“ von 1950 so kennzeichnend erscheint.

Unmerklich aber scheinen längst tot-geglaubte Adern zwischen dem Sakralen und Profanen sich wieder mit Blut zu füllen. Es erschiene uns unrichtig, verfrüht und allzusehr vereinfacht, von einer Erstarkung der Frömmigkeit, oder einem Ersatz der Weltangst durch Gottesfurcht zu sprechen. Aber man kann festhalten, daß wieder viele Begriffe ins Alltagsfühlen sickern, die daraus für immer verbannt schienen. Es war auffällig, wie wenig Widerstand Graham Greene fand, als er die Hölle wieder in die Literatur einführte, und auch das Wagnis T. S. Eli-ots, in einem Gesellschaftsstück mystische Personen, die „guardians“, die „Schützer“, einzuführen, war im Grunde kein Wagnis, und für die Annäherung zwischen Alltag und Religion schien es kennzeichnend, daß diese „guardians“ als höchst normale, alltägliche Menschen auftreten. Auf dem Land und in den Märkten und Kleinstädten, wo die Einheit zwischen dem allgemeinen Geschehen und dem Kultischen nie ganz abgerissen, immer wieder eindrucksvoll buntmittelalterlich Ausdruck gefunden hatte, drückt sich diese Annäherung nur in einer Vertiefung, Verinnerlichung aus. In den großen Städten ist die Strömung gewaltiger, und die Extreme schieben sich mitleidsloser aneinander. Inmitten dieses stillen Aufruhrs kämpft die anglikanische Kirche ohne sichtlichen Erfolg um ihre Rolle als harmonisierendes Zentrum. Einzelgänger stark exzentrischer Prägung scheinen die Aufgabe zu erschweren, die Umwandlung latenter Religiosität in manifeste hintanzuhalten. Da ist Bischof Barnes, der die noch immer sehr mächtige und weitverbreitete Stimmung städtischer Aufgeklärtheit durch Konzessionen befrieden will, die wieder anderen wenig von der Glaubenslehre übrig zu lassen scheinen, da ist ferner der „rote Dean von Canterbury“, Träger einer mehr dekorativen als einflußreichen Stellung, der ganz im Kielwasser der Kominform segelt, und sein Kollege von St. Pauls, der wieder für freiwillige Weise vorzugehen hat.“

Die Fische... — England weiß nicht mehr, wohin es schwimmt. Darf man hoffen, daß zarteste Organe, des Instinkts, eines inneren Maßes, Volk und Land den rechten Weg finden lassen?

Es wäre der Weg zu Europa.

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