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Seit 800 Jahren Guerilla

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In Belfast, jener Stadt, wo die meisten Bomben krepieren und die meisten Schüsse aus dem Hinterhalt fallen, gibt es nicht die strikte Trennung zwischen einer Stadt der Protestanten und einer Stadt der Katholiken, greift katholisches und protestantisches Gebiet schachbrettartig ineinander. In Londonderry, wo das große Bogside-Gebiet seit nahezu drei Jahren relativ reibungslos unter der ungesetzlichen, aber wirkungsvollen Verwaltung der Untergründler steht, machte sich die Armee zum Sturm auf die katholischen Bastionen bereit. Offensichtlich ist Minister Whitelaw nun zur Abwechslung bereit, es mehr mit den Protestanten zu halten.

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In Belfast, jener Stadt, wo die meisten Bomben krepieren und die meisten Schüsse aus dem Hinterhalt fallen, gibt es nicht die strikte Trennung zwischen einer Stadt der Protestanten und einer Stadt der Katholiken, greift katholisches und protestantisches Gebiet schachbrettartig ineinander. In Londonderry, wo das große Bogside-Gebiet seit nahezu drei Jahren relativ reibungslos unter der ungesetzlichen, aber wirkungsvollen Verwaltung der Untergründler steht, machte sich die Armee zum Sturm auf die katholischen Bastionen bereit. Offensichtlich ist Minister Whitelaw nun zur Abwechslung bereit, es mehr mit den Protestanten zu halten.

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Aber wenn er die Geschichte Irlands kennt, wird er selbst kaum hoffen, der IRA-Guerillas, denen er auf der weichen Welle keine Zugeständnisse abringen konnte, mit einer Politik der eisernen Faust Herr werden zu können. Denn in ihrer Hand liegt nach wie vor das Gesetz des Handelns.

Kein katholischer Politiker Nordirlands kann es sich heute noch leisten, eine erklärte Politik gegen die IRA zu machen. Jeder weiß, daß den besonnenen Katholikenführern eine starke Labour Party in Nordirland, in der Katholiken und Protestanten gemeinsam die konfessionellen Fronten durchbrechen, um eine echte politische Opposition zu formieren, lieber wäre als die Wiedervereinigung mit der ultrakonservativen Republik.

Aber auch ein Gerry Pitt oder ein David Hume behalten solche Gedanken heute noch konsequenter für sich als vor ein, zwei Jahren. Ganz offen konnten sie es auch damals nicht sagen. Warum nicht? Warum würde der Verzicht auf Wiedervereinigung jede katholische Politikerkarriere schlagartig beenden? Warum ist Wiedervereinigung die heilige Kuh des katholischen Lagers in Ulster?

Europa will die Antwort nicht hören, weil sie seine eigene Lebenslüge aufdecken könnte, die da lautet, tot und vergangen sei, wovon niemand mehr sprechen will. Aber kein Pfahl im europäischen Fleisch erinnert heute so unablässig und schmerzhaft an die Relativität aller Begriffe von Gegenwärtigkeit und Historizität. Irlands Geschichte ist die Geschichte der Unterdrückung eines Volkes und der jedem, der diese Geschichte nicht kennt, aberwitzig erscheinende Kampf der „Provisio-nals“ ist der jüngste Akt eines mit wenigen Unterbrechungen seit 800 Jahren geführten Guerillakrieges, in dem einer Unterdrückung von beispielloser Brutalität ebenso brutal begegnet wurde. Für jeden IRA-Fanatiker ist das sonnenklar, denn ihm ist jede Leidensstation seines Volkes gegenwärtig. Für ihn ist Gegenwart, was für die Gegenseite Geschichte ist, Geschichte hier als Synonym für Tot und Begraben, Vorbei und Erledigt, So-gut-wie-nie-Gewesen.

Deutschlands und Österreichs Lebenslüge liefert dazu eine gewisse Entsprechung. Denn in der höchst subjektiven historischen Perspektive von Millionen Deutschen und Österreichern liegt Auschwitz so ungefähr tausend Jahre zurück, ist rest- und rettungslos Geschichte, was für die Betroffenen für den Rest ihrer Tage Gegenwart bleiben wird — etwa für die Eltern der letzten in Auschwitz ermordeten jüdischen Kinder, die jetzt eine etwaige Ausbildung zum Facharzt eben erst beendet hätten.

In England wie hierzulande besteht kollektive Lebenslüge aber auch im Konsensus ganzer Völker, sich dort, wo es ins Selbstverständnis paßt, auf die jeweilige Geschichte zu berufen, die Geschichtsmächtigkedt historischer Ereignisse aber zu leugnen, wo die in der Gegenwart zu ziehenden politischen Konsequenzen allzu unbequem wären. Aus diesem Grund hat man in England verdrängt, was in Irland jeder katholische Vater seinem Kind erzählt.

Hunderte Menschen taktieren, summen, singen, grölen, brüllen heute in bestimmten Dubliner Bars jeden Abend mit gefährlich und nicht nur vom Alkohol glänzenden Augen mit, was die Balladensänger auf der Bühne, bärtig und schweißtriefend, zur Gitarre hinausschreien: das Lied vom großen Eisenbahnbau in Amerika, bei dem die Iren wie die Fliegen starben, das Lied von der IRA, das Lied von den Affen im Zoo, die sich zur britischen Army melden sollten, das Lied vom großen Hunger und die vielen Lieder von den vielen Gehenkten, Erschossenen, Erstochenen und Erschlagenen in mehr als einem halben Jahrtausend des irischen Unabhängigkeitskampfes, über den man hierzulande fast nichts weiß.

Es fällt dem Mitteleuropäer schwer, den Uhabhängigkeitskampf eines Volkes zu verstehen, das längst die Sprache der Unterdrücker zu seiner eigenen Muttersprache gemacht hat — der Ire aber weiß, warum es so ist, weiß, daß in Irland bereits vor Jahrhunderten eine düstere Vorwegnahme Hitlerscher Besatzungspolitik in Polen stattfand, weiß, daß während langer Perioden Todesstrafe auf Unterricht in irischer Sprache, Todesstrafe auf Besitz einer irischen Handschrift oder eines irischen Buches, Todesstrafe auf jeden Versuch eines katholischen Priesters, eine höhere Bildung zu erlangen, stand. Der Mitteleuropäer weiß, daß Irlands katholische Priester jahrhundertelang die unwissendsten, rückständigsten, ärmsten, ungebildetsten Europas waren — der Ire weiß, wer sie dazu verurteilt hat. Und er weiß, daß lange Zeit für jeden getöteten katholischen Priester ein Kopfgeld bezahlt wurde. Für den Engländer ist das Jahrhunderte her, für den Iren war es eben erst gestern, beide haben recht, darum verstehen sie einander so schwer.

Irische Geschichte ist eine Kette der Traumata, zwei der für das Verständnis dessen, was jetzt in Irland vor sich geht, besonders wichtige Traumata seien hier detaillierter erwähnt. Zunächst die Hungersnot. Die Republik Irland ist heute großteils ein dünn besiedeltes Land von grandioser Einsamkeit — der Tourist liebt diese Einsamkeit, der Ire weiß, daß just in einigen der heute einsamsten Gebiete in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine beispiellose Bevölkerungsexplosion stattfand, deren Ursache unbekannt ist. Wahrscheinlich lautet die Erklärung: Niedrigster Lebensstandard zu niedrigsten Preisen, denn eben weil man so anspruchslos lebte, konnte man es sich leisten, früh zu heiraten und zahlreiche Kinder in die Welt zu setzen. Der arme Ire kannte keine Heizungsprobleme, denn die Winter waren mild und Torf gab es genug, und er kannte keine Wohnprotoleme, denn Möbel waren praktisch unbekannt, ein ganzes Volk hauste in primitiv gedeckten Bruchsteinhäusern und Erdlöchern, derlei war schnell errichtet. Die Kartoffeln aber waren billig, ganz Irland lebte damals von Milch und Kartoffeln, die Kartoffeln waren das billigste und anspruchsloseste Massenfutter des frühen Industriezeitalters.

1846 kommt es zur Katastrophe. Der Kartoffel ist die Kartoffelfäule über den Atlantik gefolgt. Kleine Anzeichen signalisieren frühzeitig die Gefahr, aber es gibt keine Gegenwehr, in den ausgedehnten Monokulturen breitet sich die Krankheit mit rasender Geschwindigkeit aus. Die Seuche vernichtet die Kartoffelernten mehrerer Jahre, allein im europäischen Revolutionsjahr 1848 sterben in Irland schätzungsweise 300.000 Menschen und weitere 300.000 wandern vom Hunger getrieben in die USA — viele sterben auf der Reise, viele sterben beim großen Eisenbahnbau, aber die Auswanderungsbewegung wird jahrzehntelang anhalten, einer der gewaltigsten Aderlässe in der irischen Geschichte, quantitativ wie qualitativ, und zugleich einer der großen Beiträge Europas zum Aufschwung der neuen Welt.

Während der irischen Hungersnot starb rund eine Million Menschen, vielleicht etwas weniger, vielleicht etwas mehr, und nahezu ebenso viele wanderten aus. Während der irischen Hungersnot wurde aber auch irisches Getreide nach England exportiert, fast zwei Millionen Quarter allein im Jahr 1848 — der von den in London lebenden Großgrundbesitzern auch während der Hungersnot rücksichtslos eingetriebene Pachtzins. Denn die irischen Bauern bauten Getreide für den Landlord, aber Kartoffeln für sich selbst, und der Landlord bestand auf seinem Getreide, auch wenn der Pächter verhungerte. Es war das frühe Maschinenzeitalter: Man erfand Maschinen, die mächtige, eisenbeschlagene Balken durch die Mauern von Bauernhäusern stoßen und anschließend deren Dächer abheben konnten — auf diese Weise wurde selbst noch das Vertreiben säumiger Bauern, die den Pachtzins nicht mehr aufbringen konnten, rationalisiert.

Für England ist das heute „bewältigte Vergangenheit“ — nicht so für die Iren, die an der Erinnerung an die große Hungersnot um so hartnäckiger festhalten, je krampfhafter man in England die Erinnerung daran zu verdrängen sucht.

Immer wieder kulminiert in der irischen Geschichte der Haß. Unter all den verschiedenen Möglichkeiten, auf koloniale Unterdrückung zu reagieren, haben die Iren am konsequentesten die Rebellion gewählt und in Irlands Geschichte waren Englands Niederlagen stets die großen Feste, wenn England am Boden lag, erhoben sich die Iren, eine ihrer großen Hoffnungen versank mit der spanischen Armada. Im zweiten Weltkrieg trug Großbritannien einen Teil seiner irischen Hypothek blutig ab — so mancher britische Seemann und Flieger mußte sterben, da Irland nicht bereit war, dem Erbfeind Luft- oder Seestützpunkte zur Verfügung zu stellen. Immerhin, man verhielt sich neutral und südirisches Territorium wurde von den Deutschen fallweise „irrtümlich“ bombardiert.

Das war im ersten Weltkrieg anders. Als er ausbrach, deutete (freilich muß man sagen: wieder einmal) alles auf die nahe Befreiung vom britischen Joch. 1916 kam es zum sogenannten Osteraufstand, der mit aller Stärke niedergeschlagen wurde und wieder einmal mit einem jener blutigen Gewaltakte endete, die sich dem irischen Gedächtnis von Generation zu Generation eingebrannt haben: 19 Mitglieder der irischen Hocharistokratie wurden als Rädelsführer ohne ordentliches Gerichtsverfahren zum Tod verurteilt, zwei Wochen hindurch täglich ein oder zwei von ihnen erschossen, erst nach der 15. Hinrichtung wurden die übrigen begnadigt. Unter den (zu lebenslanger Zwangsarbeit) begnadigten Anführern war Eamon de Valera, der letzte Erschossene war James Connolly, einer der bedeutendsten Führer und zweifellos der bedeutendste Geschichtsschreiber der irischen Arbeiterbewegung.

1919 bekennt sich die Mehrheit der Iren mit dem Stimmzettel zur Republik, gleichzeitig wird in einem Wahnsinnsakt die IRA geboren — um zu dokumentieren, daß der Kampf weitergehen müsse, erschießen Fanatiker (während Dublin den Wahlsieg feiert) aus dem Hinterhalt Polizisten, die einen Munitionstransport für den Posten Solohead-beg begleiten.

Was damals für Irland folgte, stellt alles, was dort heute geschieht, in den Schatten. England entsandte eine Spezialtruppe, die „Black and Tans“, die dem Terror mit einem noch blutigeren Gegenterror begegneten. Ihre Methoden: Repressalien gegen Schuldige und Unschuldige, Zerstörung von Fabriken, Niederbrennen von Molkereien, Wohnbauten und Amtsgebäuden in einem weiten Radius um jeden Ort, an dem sich ein Terrorakt gegen die Briten ereignet hat, Massenerschießungen von Verdächtigen und solchen, die dazu erklärt werden, bis jede Proportion verlorengeht. Nach der Ermordung eines Polizeiinspektors in Balbriggan setzen Polizisten dreißig Häuser in Brand, werfen Handgranaten durch Türen und Fenster und knallen auf jeden, den sie zu Gesicht bekommen. In Tralee werden zwei Polizisten in den Gaswerksofen geworfen, worauf die Polizei innerhalb von zwei Wochen Stadt nach Stadt brandschatzt und in Balbriggan und Mallow die Fabriken einäschert, von denen die Existenz der Bevölkerung abhängt. Nach dem Freispruch einer Gruppe von Terroristen zerschlägt die Polizei die Geschäftslokale aller Geschworenen, zehn Städte, fünfzig Dörfer sinken in Schutt und Asche, wieder einmal provoziert der schrankenlose Gegenterror die Sympathien für die Terroristen. Allein 1920 starben 230 Polizisten. Am 21. November ermorden die Terroristen 14 in einer „geheimen Feme“ zum Tod verurteilte britische Geheimdienstoffiziere in ihren Betten. Am Nachmittag desselben Tages feuert Militär in die Menge auf einem Fußballplatz — 17 Tote, 50 Verwundete bleiben zurück.

Auf dem Höhepunkt des Chaos starben täglich 15 bis 20 Menschen eines gewaltsamen Todes. Der Wahnsinn kulminiert auf beiden Seiten, ein republikanischer Wahlsieg in Dublin wird von den „Patrioten“ mit der Ermordung zweier Army-Offiziere und zweier junger Frauen und mit der Niederbrennung des Zollamtes, des schönsten Gebäudes von Dublin, „gefeiert“ — die Feuerwehr wird mit Maschinengewehren vertrieben, mehrere Personen können den brennenden Riesenbau nicht mehr verlassen.

England erkennt, spät, aber doch, nach 800 Jahren, daß es unmöglich ist, Irland zu halten. In Downing Street machen die irischen Unterhändler Frieden mit 1 England — Ulster, das heutige Nordirland, das schon immer eine gewisse Eigenständigkeit an den Tag legte, soll im United Kingdom verbleiben.

Die Radikalen, die Extremisten, unter ihnen auch Eamon de Valera, lieferten der Regierung des jungen Freistaates einen monatelangen Bürgerkrieg, weil sie der Teilung des Landes zugestimmt hatte, und in diesem Bürgerkrieg wurde nicht weniger gebrandschatzt und ermordet, im Kampf getötet und hingerichtet als vorher im Kampf um die Unabhängigkeit. Eine formelle Kapitulation fand nicht statt. Eamon de Valera forderte einfach seine Anhänger auf, das sinnlose Gemetzel einzustellen und machte seinen Frieden mit einem Staat, an dessen Spitze er später trat — sie aber vergruben ihre Gewehre im Wald und wurden disziplinierte Bürger.

All der Schrecken, der der Ausrufung des Freistaates vorausging und folgte, kommt heute, im kleineren Ulster, wieder drohend auf Irland zu: Mit den Wahnsinnsakten der IRA und unter dem Damoklesschwert militärischer Gegenmaßnahmen, die den Konflikt nur verschärfen -können. Am Ende wird, früher oder später, die Rückkehr der sieben losgetrennten Grafschaften in ein vereinigtes Irland stehen. Nicht, weil dies das Vernünftigste wäre, sondern einfach, weil der Fanatismus, der auf dem Nährboden eines seit 800 Jahren getretenen Nationalgefühls wuchs, eine andere Lösung nicht akzeptiert. Man kann den Fanatismus noch so sehr ablehnen, noch so sehr verurteilen — in Irland macht vor der totalen Genugtuung, sprich Etablierung eines einzigen, freien Irland, kein Wirt ohne ihn seine Rechnung.

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