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Brief aus Irland

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Lieber Freund!

Tagelang waren die europäischen Zeitungen voll von Berichten über Internierungen, Schießereien, Massenflucht, Brände, Tote in Nordirland. Die Kommentare, die sich anschlossen, troffen von Unverständnis. Europa konnte sich wieder einmal so recht erhaben fühlen über uns, diese im Mittelalter steckengebliebenen religiösen Fanatiker.

Mir, als nordirischem Katholiken, scheint das Unverständnis für die Situation meines Landes Resultat zweier Umstände zu sein. Erstens einer notorisch schlechten Information. Nordirland ist sozusagen ein weißer Fleck auf der politischen Landkarte der europäischen Zeitungsleser.

Den zweiten, wichtigeren Faktor möchte ich Europas außerordentliche Gedächtnisschwäche nennen. Ich finde es nicht richtig, wenn man in I,ändern, in denen vor weniger als einem Menschenalter Menschen massenweise ausgerottet wurden, angesichts dessen, was jetzt in Irland geschieht, von einem Rückfall ins Mittelalter spricht.

Vielleicht hält sich das Märchen, Nordirlands schwelender und Immer wieder aufbrechender Konflikt sei mit der Fixierung auf überholte religiöse Probleme zu erklären, manchenorts deshalb so hartnäckig am Leben, weil es dort eine verwandte Saite zum Schwingen bringt. Aber es handelt sich um ein Mißverständnis. Unser Konflikt hat einen sehr harten nationalen und ökonomischen Kern.

Der Mitteleuropäer hält die Iren für gewalttätige Hitzköpfe. Das sind wir auch, aber wir sind keine gewalttätigeren Hitzköpfe als die Menschen vieler anderer Regionen, in denen jahrhundertelange Unterdrük- kung nicht in der Lage war, den Stolz der Unterlegenen zu brechen und ihre Freiheitssehnsucht auszutilgen. Auch in Irland erreichte man damit das Gegenteil dessen, was man anstrebte: Das Gefühl der irischen Identität, nennen Sie es Nationalismus, und damit zwangsläufig das Rebellentum, wurde um so hartnäckiger tradiert.

Die Menschen haben ein sehr schlechtes Gedächtnis für Qualen, die sie anderen zugefügt haben, und ein sehr gutes für jene, die sie selbst erlitten. Sie müssen das wissen, denn auch in Ihrem Land haben sich Dinge ereignet, die den einen historisch und endgültig vergangen erscheinen, während sie für die anderen erst gestern geschahen: Die jüngsten Opfer der Gaskammern hätten jetzt gerade erst ihr Studium hinter sich …

Darum haben die meisten Briten kaum zur Kenntnis genommen, daß die britische Kolonialpolitik in Irland wesentliche Elemente der Hitler- schen Besatzungspolitik in Polen vorwegnahm: Wie in Polen wurde die intellektuelle Führungsschicht systematisch vernichtet. Lange war der Besitz irischer Handschriften bei Todesstrafe verboten, Vermittlung höherer Bildung bei Todesstrafe verboten, es gab Zeiten, in denen auf den Kopf eines toten irischen Priesters ein Preis ausgesetzt war. Der irische Priester war natürlich ein katholischer Priester.

Irtand ist heute auch für Ihre Landsleute ein schönes Reiseland, weil es ein sehr dünn besiedeltes Land ist. Dies wiederum ist es als Folge jahrhundertelanger Drangsal und nicht zuletzt ctar großen Hungersnot, die 1846 ausbrach. Sie kostete gegen eine Million Tote und trieb eine weitere Million Iren zur

Auswanderung nach Amerika. Der Mehltau, der die Kartoffelernte vernichtete, war natürlich auf höhere Gewalt zurückzufüihnen, aber daß damals ein Achtmillionenvolk fast ausschließlich van Kartoffeln leben mußte, ging auf britische Gewalt zurück. 1848 allein verhungerten 300.000 Iren, im gleichen Jahr wurden zwei Millionen Quarter Getreide nach England verschifft: rücksichtslos eingetriebener Pachtzins.

Wenn dietr IRA-Mann zum Gewehr greift, denkt er vielleicht nicht gerade an die Toten von 1848, aber sehr wahrscheinlich denkt er oft an die Jahre nach dem ersten Weltkrieg, als Irland zu einer Art Vietnam wurde, vor allem, was die Repressalien der gegen die Aufständischen eingesetzten englischen Son- dertruppe der „Black and Tans" betrifft: Das Jahr 1920 war das blutigste Jahr der irischen Geschichte seit 1798 und der Mord an zwei Polizisten wurde mit Airmy- Brandschatzungen in Tipperairy, Longford, Limerick, Galway, Trim, Cork und anderen Städten, mit der Niederbrenniung von zwei Fabriken, an denen die Existenz der halben Bevölkerung hing un mit der Einäscherung von Rathaus und Haupt- geschäftsviertel von Cork gesühnt.

Damals wurde die blutige Saat ausgestreut, die heute aufgehit: England zog sich nach mehr als 600 Jahren der Unterdrückung aus Irland zurück, aber nicht aus ganz Irland, diesem Land, das zu klein ist, um eine Teilung zu vertragen.

Die Abtrennung Ulsters kann etwa mit einer Abtrennung Tirols oder Niederösterreichs von Österreich verglichen werden. Um die Freiheit überhaupt zu erlangen, wurde dieser schmerzhafte Schnitt damals akzeptiert. Ulster, das abgetrennte Teilstück mit der protestantischen Mehrheit, hat die historische Aufgabe, seine katholische Minderheit durch Fairneß für den Teilstaat zu gewinnen und zu integrieren, nicht bewältigt und nie versucht, dies zu tun. Die katholische Minderheit wurde vielmehr sozial isoliert, entrechtet und ausgebeutet, und indem man katholische und protestantische Arbeiter aufeinanderhetzte, ersparte man sich allzu kostspielige soziale Fortschritte.

Wahrscheinlich batte Ulster gar nicht die Chance, ein politisches Gebilde zu werden, das die Bezeichnung Staat verdient. Aber das ist nicht Schuld der katholischen Minderheit, sondern der Teilung.

Ich bin Katholik und iah verabscheue die Gewialt. Ich kann die Methoden der militanten IRA- Männer nicht gutheißen, aber es fällt mir auch nicht leicht, diese Männer zu verurteilen. Ich sehe keine andere Möglichkeit, in Nord- irland Frieden herzustellen, als die, es aus seinen Bindungen an England zu lösen und auf Wegen, über die zu reden wäre, vorerst einmal näher an die Republik Irland heranzuführen.

Über die Enttäuschungen, die einen nordirischen Katholiken in einem wiedervereinigten Irland erwarten, bin ich mir im Maren. Sie sind der Preis für die Zeche, die die Eroberer in diesem Land in Jahrhunderten auf laufen ließen und die wieder einmal der Unterlegene bezahlt.

Deshalb brauchen wir Verständnis — Verständnis und ein wenig Nachsicht mit uns. Mit den dickköpfigen Iren…

Danken Sie Gott, daß Sie es in Österreich besser haben. Ihr

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