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Haßfreie Jugend

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Seit die Schüsse von Sarajevo dem letzten Urlaubsaufenthalt des alten Kaisers Franz Joseph ein jähes Ende setzten, war es um Bad Ischl still geworden. Wo jahrzehntelang jeden Sommer die Geschicke eines Sechsundfünfzigmillionen-reiches mit vierzehn Völkern gelenkt worden waren, fanden sich nur mehr mittelständische Urlauber aus Österreich, selten aus dem Ausland, meist Künstler oder Beamte, zu bescheidener Erholung zusammen; zuletzt hatte die Öffentlichkeit von Ischl gehört, als Franz Lehar, der Altmeister der Wiener Operette, dort hochbetagt, die Augen schloß.

Österreich war eben zu einem kleinen Restgebilde, anscheinend ohne eigentliche Mission, geworden, als der alte Vielvölkerstaat nach vierjährigem Todeskampfe 1918 vom siegreichen Nationalismus zerstört wurde; der übernationale Gedanke, den, trotz aller ihrer Mängel, die alte Monarchie doch verkörpert hatte, schien mit dem alten Kaiser gestorben zu sein. Kein Wunder, daß auch Österreich selbst 1938 vorübergehend vom gleichen Nationalismus verschlungen wurde...

Nun wehten aber in Ischl wieder die Fahnen aller Nationen der Erde. Das 7. Weltjamboree der Pfadfinder vereinigte dort, in landschaftlich wundervoller Umgebung, in einer rasch entstandenen Zeltstadt, 16.000 junge Menschen aus 52 Nationen zu einem unpolitischen Fest der Eintracht, Ritterlichkeit und Hilfsbereitschaft. Zum erstenmal seit dem zweiten Weltkrieg traf sich hier, 50 Kilometer vom Eisernen Vorhang, die freie Jugend der Welt als Gäste eines jubelnden Österreich, dessen übernationale Sendung fröhliche Urständ feierte. *

Wem ist angesichts dieser fröhlichen, friedlichen, freien Jugend nicht das letzte Fest der Jugend, die Berliner Olympiade von 1936, schmerzlich in den Sinn gekommen? Waren nicht damals, auf dem Höhepunkt der nationalistischen Epoche, junge Leute aus aller Welt zusammengeströmt, um ihre Kräfte zu messen? Hatte damals nicht die olympische Glocke die Jugend der Welt nach Tokio gerufen, der Stadt, die erst heute, ebenso wie Berlin, in heroischer Kraftanstrengung aus dem Schutt des zweiten Weltkrieges wiederaufzusteigen sich anschickt? —

Aber der Vergleich, den anzustellen man sich versucht fühlte, stimmt dennoch nicht. Denn — und das ist wesentlich — hier in Ischl gab es, außer dem spielerischen Brückenschlagen über den Radaubach, keinen Kampf, keinen Wett-

bewerb. Keine Nation suchte die andere zu übertrumpfen, niemand wollte sich und der Welt beweisen, daß sein Land, sein Volk, seine Rasse den anderen überlegen ist. Es wurden darum auch keine Preise verteilt. Die Welt hat mit Schaudern erfahren, daß jeder Kampf um rein materielle Werte — auch biologischen Charakters — schließlich mit Atombomben entschieden wird. Und während damals in Berlin die nationalen Gruppen durch ihre Trainer angeführt wurden, wurden sie jetzt in Ischl durch Priester aller Bekenntnisse, in Pfadfindertracht oder Talaren, begleitet.

Im übrigen brachte der Aufmarsch der Jugend zum Bewußtsein, wie sehr sich unsere Welt seit 1936 verändert hat. Noch immer sind die Angelsachsen führend, noch immer ist das Englische die meistgesprochene und -verstandene Sprache. Aber die Amerikaner geben jetzt den Ton an.

Der geistige Zusammenhang der ehemaligen Gliedstaaten des Britischen Empire dauert freilich, über die politische Trennung hinaus, weiter fort. Engländer, Schotten, Kanadier, Australier, Neuseeländer, Südafrikaner einerseits, Iren, Inder, Pakistaner, Ceylonesen und Burmesen andererseits, gehören dennoch

irgendwie zusammen und haben alle teil an der großen Tradition des Gründers der Bewegung, des Engländers Lord Baden-Powell.

Aber während die Briten immer streng zwischen Mutterland und Kolonien unterscheiden und die Rassenlinie für sie stets voll besteht, betonten die Franzosen auch hier die absolute Einheitlichkeit ihres Reiches. Schwarze Senegalesen trugen ihr Band mit der Aufschrift „France“ genau so am Hemde wie europäische Franzosen und wurden in den Verlautbarungen nur „Francais africains“ genannt. Hier kam einem erneut zum Bewußtsein, daß Frankreich nicht n u r zu Europa gehört. Sein Grundsatz der Rassengleichheit hob sich deutlich von zum Beispiel den Südafrikanern ab, deren Gruppe kein einziges schwarzes Mitglied aufwies. Auch die amerikanischen Neger fehlten.

Der Mittlere Osten bildet eine Gruppe für sich. Inder, Pakistani, Ceylonesen, Araber, Ägypter und Iranier zeigten, daß hier ein neues, immer stärker werdendes Element der Völkergemeinschaft im Aufbau begriffen ist. Die Palästinenser bilden ein eigenartiges Bindeglied zwischen Ost und West.

Die große, echte Einheit Europas, sofern es noch frei ist, fiel überall in die Augen. Seine Pfadfinder waren wirklich oft nur an ihren Abzeichen zu unterscheiden.

Gleicherweise bildete die lateinamerikanische Welt eine deutlich unterschiedene Gruppe für sich.

Der Ferne Osten war nur schwach vertreten. Zum erstenmal nach der Niederlage wehte wiederum Japans Sonnenfahne auf einer internationalen Versammlung, über den beiden kleinen Zelten seiner Delegation. Neben ihr waren die Philippinen, Burma, Vietnam, Siam und Taiwan durch wenige Delegierte vertreten. Chinesen erschienen noch in der Abordnung der britischen Kronkolonie Hongkong; paradoxerweise sind die einzigen freien Chinesen heute die, die außerhalb Chinas leben.

Aber das Auffallendste war wohl das Fehlen der Slawen. Auf den Straßen der Zeltstadt hörte man kein slawisches Wort. Die wenigen Delegierten der russischen Emigranten (es gibt neben ihnen auch noch einzelne Ungarn, Litauer und Armenier) konnten an diesem Eindruck nichts ändern. Die Spaltung unserer Welt in zwei Hälften, eine freie und eine totalitäre, kam gerade durch diese große Lücke, durch die Völker, die nicht hier vertreten sein konnten, besonders schmerzlich zum Bewußtsein. „,

Aber die Atmosphäre der Freiheit, in der sich das Jamboree bewegte, war dennoch erhebend und beglückend. Wer in den vergangenen Jahren und auch in der Gegenwart die vielen Aufmärsche, Tagungen, Parteitage, Protestkundgebungen, Treffen und Versammlungen mitgemacht oder mitangesehen hat, konnte freudig feststellen, daß es hier kein Defilieren, keinen Stechschritt, keine Spruchbänder und Sprechchöre gab; daß nir-

gends Riesenbilder vergotteter Menschen herumgetragen wurden; nirgends hörte man Kampfparolen, nirgends war auch nur eine Spur von Haß, Neid oder Ressentiment zu bemerken. Was man statt dessen sah und hörte, waren nur Spiele, Volkslieder, Tänze; sehr viel Gelächter, sehr viel Freude, sehr viel Wohlwollen. Vergebens hätte man die geringste politische Anspielung für oder gegen ein bestimmtes System gesucht.

Was vielleicht am allertiefsten ergriffen hat, war eine Gruppe französischer Pfadfinder, durchwegs Körperbehinderte, halbgelähmt, verkrümmt oder blind, die auf Krücken oder Rollstühlen, von ihren glücklicheren Brüdern geführt, froh und gelöst an allen Vorführungen teilnahmen. Zeigte doch dieses Beispiel,

daß die Gemeinschaft einer neuen Jugend tiefer geht, als die bloß biologischen Bindungen, und daß sich hier eine Einheit gebildet hat, die, allen Klassen-, Massen- und Rassenkampfparolen zum Trotz, nichts Höheres kennt, als eben das gemeinsame Mensch-sein.

Nur dieses wird imstande sein, die freie Welt zu retten. Wer das Glück hat, einen Sohn beim Jamboree in Ischl zu haben, wird gewiß dem greisen Kardinal von Wien beistimmen, der in einer Ansprache die versammelte Jugend aufforderte, mit Gottvertrauen den Pfad zu finden, der zum wirklichen Frieden führt; und wird ihnen, ganz buchstäblich, aus ganzem Herzen wünschen, daß ihnen einmal das große Unterfangen gelingen möge, in welchem wir Älteren versagt haben: eine dauerhafte Brücke über den — Radaubach zu schlagen. G. C.

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