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Bi-Pi und die Seinen

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MAFEKING wird den meisten von uns ein Wort sein, das ebenso eine Ortsbezeichnung wie eine Firmenmarke bedeuten kann. Am Ende hält der oder jener die zweite Silbe „king", englisch für „König“, als exotische Bezeichnung für einen der jetzt in aller Welt eifrig Pfade des Friedens suchenden Würdenträger. Nun: Mafeking, das Verwaltungszentrum und der wirtschaftliche Mittelpunkt des britischen Schutzgebietes Betschuanaland, rund 250 Kilometer westlich von Johannesburg und Kreuzungspunkt der von hier an die große transafrikanische Bahn Kapstadt—Salisbury führenden Linie, etwa 6000 Einwohner zählend, könnte man wirklich sowohl als eine Fabrikmarke wie auch als eine Würdenbezeichnung für jene ausgeben, welche bei Tag und Nacht den richtigen Pfad zur Völkerverständigung suchen. Mafeking wurde vom 12. Oktober 1899 bis zum 17. Mai 1900 von dem damaligen Oberst Robert Stephenson Smyth Baden-Powell gegen die Buren verteidigt. Dort, während des Südafrikakrieges, erkannte er, der auf die Hilfe der Kinder und Frauen zurückgreifen mußte, welche Kraft ausstrahlt von jugendlicher Begeisterung und Hingabe für eine der Allgemeinheit dienenden Aufgabe. Bi-Pi, wie er späterhin einfach genannt wurde, sagte sich: was wäre diese Begeisterungsfähigkeit erst, wenn sie nicht dem Kriege, sondern dem Frieden sich zuwendete, wenn das Einstehen des einzelnen für eine Gemeinschaft die Gesinnung eines Lebens bedeutete? Bi-Pi, der schon seine Uebersicht und Besonnenheit ein paar Jahre vor Mafeking in Indien und an der Goldküste bewies —... dort trug er zum ersten Male den charakteristischen Cowboyhut, weswegen die Eingeborenen Baden-Powell „Kantakye“, das heißt „den mit dem großen Hut" nannten —, Bi-Pi quittierte schließlich am 7. Mai 1910 den Militärdienst, um sich ganz den Pfaden des Friedens zuzuwenden.

DIESEN PFADFINDER feiern am 22. Februar,. da sich der 100. Geburtstag Bi-Pis jähijt, auch die P gdfaijer gesterj-eichs. Bei uijs tauchte schon zwei Jahre nacll dem Erscheinen der Schrift „Scouting for boys“, also 1910, der Begriff „Pfadfinder" auf. Es wurde , eine Gruppe gegründet, der Uebungsschullehrer Pfliegers- dorfer von Wiener Neustadt stand ihr vor; 1911 finden wir in Wien eine Gruppe, im folgenden Jahre wąren Burschen aus Erdberg dabei. Das merkwürdige Aussehen zog die berühmte Kennzeichnung nach sich: „Dö san vom mexikanischen Roten Kreuz.“ Nun, wenn man die Idee des Roten Kreuzes als einer über allen Parteien stehenden, internationalen Hilfsorganisation begreift, dann ist der Wiener Witz damals nicht einmal so abseitig gewesen. Im ersten Weltkrieg gab es in Wien schon drei Korps (nach der heutigen Sprache: Kolonnen), 1916 erschien die Zeitschrift „Jung-Oester reich“ mit der regelmäßigen Beilage „Der Pfadfinder“. Damals, ja damals, im Abendschein des großen Reiches kampierten die Burschen wie in Wien so auch in Prag und Triest. 1917 gab es 3000 Pfadfinder — sogar die österreichisch-ungarische Kolonie in Konstantinopel hatte ihre Pfadfinder. Und ob nun auch das alte Reich zerbrach, die Republik sein Erbe antrat, neuerdings ein Krieg aufflammte und die Wege der Friedenssucher unkenntlich zu machen schien: es war doch eine Idee, die kein Zweifel und kein Haß zerstören konnte. Das glanzvollste Zeichen der Bewährung österreichischen Pfadfindertums war das Jamboree von Bad Ischl im Jahre 1951: 15.000 Jugendliche aus allen Teilen der Welt reichten sich die Hände und gelobten, wie einst, als Bi-Pi in Arrow Park 1929 sprach, „Zeichen des Friedens und des guten Willens“ zu setzen, statt den Pfeil des Giftes, von Blut getränkt, den Pfeil der Heilung, den „goldenen Pfeil“, allüberall hinzutragen, wo noch nicht die Ohren von den Phrasen ertaubt waren.

ÖSTERREICHS PFADFINDER, fast' 14.000 an der Zahl, haben in dem Augenblick, da an den Grenzen unserer Heimat die Kanonen donnerten und Menschen ihrer Gesinnung wegen Haus und Hof verlassen mußten, Familien grausam zerstreut wurden, ein Beispiel ihrer Bereitschaft geliefert. In jenen Tagen ereignete es sich, daß der ungarische Lastkraftwagenfahrer den Mantel öffnete und den versteckten Pfadfindergürtel zeigte, den er all die Jahre hindurch, was immer auch in Ungarn vorging, getragen hatte. Als Helfer beim Roten Kreuz in der Umschlagstelle Nickelsdorf haben die Pfadfinder bis zur Erschöpfung ihre selbstgewählte Pflicht getan. Es waren dort keine Auszeichnungen zu erringen. Es schmetterte keine Marschmusik. Es wehten keine Fahnen der Welt. Aber die Gedanken vieler Menschen auf der ganzen Welt, ja, die waren dort an den Grenzpfählen. Man kann sich schwerlich einen ergreifenderen Anblick denken als etwa den des Burschen, dessen Hut auf der Brust hing, dessen linker Arm leer in der Luft schwang, dessen rechte Hand fest aber noch das Gabenpaket für die nächsten. Ankömmlinge hielt — indes der Kopf schlaftrunken nach vorne hing. Vielleicht haben damals die Pfadfinder Oesterreichs der Welt, die sich die ,,freie“ zu sein rühmte, und die Sache der Freiheit heute fast schon wieder vergessen hat, jener Welt, die damals (und heute noch) viel redete und wenig tat, eine nötige Lehre erteilt. Jeder Pfadfinder wurde in jenen Tagen aufgefordert, ein kleines persönliches Opfer zu bringen. Und: bevor noch die Großen auf dem Plan erschienen, waren schon die Kleinen der Welt unterwegs, „allzeit bereit“. Vor kurzem konnten sie dem österreichischen Bundeskanzler den Betrag von 30.000 Schilling für die ungarischen Flüchtlinge übergeben. Eine Summe, zusammengetragen durchwegs aus kleinen und kleinsten Münzen. Gerade der praktische Gedanke des Verzichts auf persönliche Genüsse (und mögen sie dem Erwachsenen belanglos erscheinen, für den Buben sind sie ein Opfer) hat eine erzieherisch wirkende Kraft, die man nicht unterschätzen soll.

ERZIEHUNG UND MENSCHENBILDUNG ist nicht nur eine Sache der Schule, des Erziehers, des gedruckten Wortes. Das wäre schön und leicht, und wir hätten keinen Grund zu einer Klage und keine Ursache, von einer Krise der Erziehung zu reden. Die Pfadfinderbewegung unseres Landes war der Stamm für die meisten anderen Jugendbewegungen. Sie bezieht sich methodisch mit ihrem Patrouillenaufbau (Gruppen von sechs bis acht Buben) ausdrücklich auf die Erziehung zur Gemeinschaft und zur Heranführung an die Verantwortung. Der Jugendliche muß erkennen: Fehle ich, dann fehlt es allen. Der Grundgedanke des Pfadfindertums ist ferner und nicht vielleicht zuletzt ein religiöser. Der Jugendliche ist kein Geburtsscheinbekenner, sondern ein Tatbekenner, gemäß der Entschließung von Kopenhagen 1924. Wie sehr man diese tatbekenne- rische Kraft einschätzt, erhellt daraus, daß- die Pfadfinder, aus 57 Nationalverbänden bestehend, gerade dort verboten sind, wo man eine Staatsjugend, eine Pseudo-Staatsreligion statuiert oder doch eifrig fördert: im Osten. Wie seltsam! Gerade dort, wo man doch großes Verständnis für eine „Weltbrüderschaft“ vor- aussetzen könnte! Freilich: diese Brüderschaft ist nur eine Folgerung aus der staatsbürgerlichen Erziehung und dem Bekenntnis zur eigenen Flagge. Den „Tag der Flagge“ hat vor drei Jahren bezeichnenderweise die Pfadfinderschaft ins Leben gerufen. Ein treuer Sohn der Heimat, ein Oesterreicher, achtet im anderen Men-

rsphąiv/desSei0 Nątfb1£į; je_..Jtęd£ė/ įt ty8 E'gen' geschaffen , lieh eine Jugend zeigt, desto mehr schwinden die Mißverständnisse zwischen den Nationen. Vielleicht sind alle „Europabewegungen“ und ihre. Flaggen, alle Bemühungen zur Koordinierung zumindest dieses streitzerrissenen Erdteils schon eine Folge pfadfinde- rischen Wirkens derer, die. einst jung gewesen, nun mit unbeirrbarer Hoffnung auf die'Jugend von heute blicken.

DIE HOFFNUNG AUF DIE JUGEND. Sie hat die letzte Botschaft Baden-Powells of Gil- well, die man nach seinem Tode unter den Schriftstücken fand, beseelt. „Ich glaube", so heißt es in der ergreifend-schlichten Botschaft, „daß Gott uns in diese fröhliche Welt gestellt hat, damit wir glücklich seien und uns des Lebens erfreuen. Das Glücklichsein kommt nicht vom Reichsein, auch nicht bloß davon, daß man in seinem Beruf Erfolg hat, noch weniger von Nachsicht gegen sich selbst . .. Die Betrachtung der Natur wird euch zeigen, wie reich an schönen und wunderbaren Dingen Gott diese Welt gemacht hat. .. Versucht, diese Welt um ein weniges besser zu hinterlassen, als ihr sie vorgefunden habt.. .“

Als Baden-Powell seine Augen schloß, wenige Wochen vor seinem 84. Geburtstag, weilte er, fern seiner Heimat, in Kenya und — man schrieb das Jahr 1941 — der Krieg tobte über die Erde. Aber es hat sich niemals deutlicher gezeigt als nach diesem verheerenden Schauspiel, daß die Worte im Buche Bi-Pis, „Scouting for boys", keine Redensarten waren: „Was sehr oft zu Kriegen führt, ist die Tatsache, daß die Leute in den verschiedenen Ländern meist persönlich sehr wenig voneinander wissen, von ihren Regierungen jedoch hören, es sei notwendig zu kämpfen. So gehen sie in den Kampf und bereuen es dann hinterher . . ."

Der Bub in Nickelsdorf, der, schlafend noch, das Opfer vieler Wochen, das Geschenkpaket für die Menschen jenseits der Grenze fest umklammert hielt, wurde von keiner internationalen Nachrichtenagentur interviewt und von keiner Wochenschau gefilmt. Und doch hat sich in diesem jungen Menschen der Geist einer Zeit dokumentiert, ohne ein Dokument zu hinterlassen.

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