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Der Optimist der Tat

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Es ist aufregend, einem wahrhaft guten Mensdien in Omaha zu begegnen. Ich meine dies buchstäblich. Wir, die wir durch das Grauen des zweiten Weltkrieges hindurchgegangen sind, die wir die Gewalt des inkarnierten Bö'-en an uns selbst verspürten und glaubten, daß es endgültig über uns obsiege; wir. die wir mit einer Art Verzweiflung vor dem Narrenturm dieser Welt stehen und in unserer nächsten und weiteren Umgebung Mitmenschen und Mächte erkennen, die von Eigennutz und Erfolgsgier erfüllt sind, die wir Menschen sehen, welche bitter um ihr Lebensminimum ringen, von der Hand in den Mund leben, nur mehr um das Stoffliche bemüht und von allen höheren Zielen abgekommen sind; wir, die wir stumpf geworden durch das Abwegige, Schlechte, Unglückliche in uns und um uns, werden aus unserer Fassung gebracht, wenn wir einem Menschen begegnen, der sich klar dem Guten verschrieben hat, für den der gute Weg kein Problem mehr ist, der nicht von heute auf morgen lebt, sondern bei aller Weltaufgeschlossenheit nur jenen Idealismus kennt und verfolgt, der seine Wurzeln im Jenseitigen besitzt. So geht es den Menschen, die Msgr. Edward Joseph Flanagan begegnen, einem Manne, der über Rassen,

Bekenntnisse und Nationalitäten hinweg ein Werk der Humanität gesdiaffen hat. Er ist jetzt in Wien unser Gast. Die „Furche“ hat schon am 26. April 1947 über ihn und sein beispielhaftes Werk in einer anschaulichen Schilderung berichtet, die sie von einem ihrer amerikanischen Mitarbeiter, Fritz Popp, erhalten hatte. In der Folge vom 3. Mai 1947 veröffentlichte sie dann einen Brief Msgr. Flanagans, in dem dieser in sehr herzlicher Weise seiner Sympathie für das österreichische Volk Ausdruck gab. Eben zu. dieser Zeit hatte Msgr. Flanagan durch General Mac Arthur eine Berufung nach Japan erhalten, um dort an der Reform des japanischen Erziehungswesens mitzu wirken.

Edward Joseph Flanagan, ein geborener Ire (1886), hat die Mission des hl. Patrick in seiner Wahlheimat, den Vereinigten Straten. in einem neuheidnischen Bezirk fortgeführt, im Bereich der entwurzelten, verwahrlosten, allem höheren Menschentum verlorenen Jugend, die ohne eigene Schuld ins leibliche und seelische Elend geriet. Nachdem er seine theologischen Studien an der Universität Innsbruck 1912 mit dem Empfang des Sakramentes Priesterweihe beschlossen, begab er sich nach den USA. Seit jeher hatte ihn soziales

Elend gerührt. Als 1913 eine große Trockenheit viele Erntearbeiter brot- und obdachlos machte, eröffnete er in Omaha, Nebraska, eine Heimstätte für sie. Trotzdem im nächsten Jahr die Not abnahm, führte er das Heim fort und beschäftigte sich mit den Schicksalen von über 10.000 Obdachlosen, aus dem Gefängnis Entlassenen, unter die Räder gekommenen Männern. Dabei entdeckte er, daß bei 90 Prozent seiner Fälle die unglückliche Jugendzeit der Grund für ihr trauriges Schicksal war. Nun fühlte er, daß er dem Übel an der Wurzel zu Leibe rücken mußte. Mit 90 Dollar, die er sich ausgeliehen hatte, mietete er zehn Meilen westlich von Omaha eine Farm mit dem dazugehörigen Ackerland, las verwahrloste Knaben von der Straße auf und eröffnete so am 12. Dezember 1917 seine Knabenheimstätte. Es war ihm klar, daß man diese oft elternlosen, obdachlosen Knaben nur retten konnte, wenn man sie aus ihrem Milieu löste, liebevoll zu einer Aussprache brachte und ständig erzieherisch betreute, um sie zu anständigen Menschen und Staatsbürgern zu erziehen. Dabei war es ihm gleich, welcher Rasse, Nation oder Glaubens sie waren. Bezeichnend dafür ist, daß heute unter den weißen Knaben, über 8 Prozent Neger und 5 Prozent amerikanische Indianer und Ostvölkerangehörige sind. Die Betreuung erstreckt sich gegenwärtig auf die Altersstufen von 10 bis 18 Jahren. In Kürze soll aber schon mit 7jährigen begonnen werden. Von 64 Hektar Flächenumfang ist der Miniaturstaat heute auf 360 Hektar angewachsen. Über 60 Gebäude, darunter 41 Wohngebäude, bilden eine ganze, von großen Grünflädien unterbrochene Stadt. „Boys Town“ ist ein Begriff für die USA geworden. Es ist e i n leuchtendes Beispiel dafür, was Privatinitiative in einer freien Demokratie vermag.

Im Juli dieses Jahres wird der zweite Teil der großen Gesamtplanung fertiggestellt sein, so daß weitere 500 Knaben in 25 Wohnvillen im Stile englischer Landhäuser, Unterkunft finden werden. Das Bauprojekt sah einen Kostenaufwand von 15 Millionen Dollar vor, von denen noch 5 Millionen zu bezahlen sind. Das Erstaunliche darin ist, daß die Kosten dieses Sozialwerkes weder der Staat noch private Einzelstiftungen, sondern die Mildtätigkeit aus allen Schichten der Bevölkerung trägt. Jedes Jahr werden Briefe ausgeschickt, mit der Bitte um ein Schärf- lein. Ob es nun 2 oder 10.000 Dollar sind, die gespendet werden, tut nichts zur Sache. Jeder Spender erhält dann als Anerkennung auf ein Jahr „Die Ehrenbürgerschaftskarte der Knabe n s t a d t“. Dieser Ausweis erfreut sich allgemeiner Hodiachtung in den USA. Und es ist klug so, sich auf die ständig fließenden kleinen Quellen zu verlassen. Was hätte man damit getan, in einem Jahr eine Reihe von 10.000-Dollar-Spenden zu haben und im nächsten Jahr auf Grund einer wirtschaftlichen oder Gemütsveränderung der Betreffenden vielleicht gar keine. Auf diese Weise ist man von den Millionären unabhängig Wenn also nach außen hin das organisatorische und wirtschaftliche Moment stark betont erscheint und die Geschäftstüchtigkeit Triumphe feiert, so unterstreicht Father Flanagan trotzdem immer wieder durch Wort und Haltung, daß dies nur das notwendige Vordergründige ist. „Durch unser Werk zieht sich der goldene Faden des Gel etes hindurch", sagt er und weiß, daß ein wohlüberlegtes Kalkulieren nur das gestattete Mittel zu einem edlen Zweck ist, das Gefallen Gottes und das Wohl der Menschen.

Sein Sozialwerk ist ein Denk- und Mahnmal der Humanitätsidee und bleibt nicht an das Konfessionelle gebunden. Den katholischen Knaben wird katholischer Religions-, unterricht erteilt, den Protestanten und Juden der verschiedenen amerikanischen Denominationen läßt man das Fach: „Charaktererziehung“ angedeihen, heißt eine Anleitung zur Anständigkeit, Ehrlichkeit, zur Humanität, zum Glauben an einen Weltschöpfer ohne Dogmengebäude. So ist es auch möglich geworden — durdi die allgemein menschlich weite Spannung des Rahmens —, daß sich alle Stände, Parteien und Konfessionen in seiner Unterstützung einig sind. Neben katholischen Priestern sind ebensosehr Laien vertreten Ein Teil der Erzieher wird von der Sekte der „Christian brothers" gestellt. So ist es nicht verwunderlich, daß sich maßgebliche Leute der USA aus Kunst, Wissenschaft und Politik zu Freunden und Bekannten Father Flanagans zählen. Seine guten Beziehungen zum staatlichen Fürsorgedienst bringen es mit sich, daß von allen über das Land verstreuten Wohlfahrtsämtern Gesuche für jene berücksichtigungswerten Fälle einlau fen, welche im lokalen Rahmen nicht bewältigt werden können,

Die Institutionen von Boys Town wurden in der „Furche“ bereits geschildert. Dort gibt es eine „Grade School“ (Volks- und Bürgerschule), die bis zur Altersgrenze von 14 Jahren reicht, eine „High School“ (Mittelschule mit einem Wirtschafts- und Kulturzweig) für 14- bis 18jährige, die dann Universitätscolleges besuchen können. Außerdem gibt es eine Handelsschule, ein Theater für 1000 Besucher und ein kleines für 250, eine Schwimmhalle, ein Verwaltungsgebäude, ein Postamt, ein Stadion und eine gedeckte Sporthalle (Fassungsraum 15.000), eine Waschanstalt, eine Ausstel- lungs- und Empfangshalle, nebst einem großen Speisehaus und einer Farm. Im Mittelpunkt der Anlage steht eine Kirche, die im englischen gotischen Stil erbaut ist und 800 Gläubige faßt. Eine prächtige Sammlung von Lichtbildaufnahmen, in die Father Flanagan dem Verfasser Einblick gewährte, bietet die Bubenstadt eine durch viele Grünflächen unterbrochene architektonische Einheit, deren Stil von Grundsätzen der Schönheit und Zweckmäßigkeit bestimmt ist. Die Knaben können sich in dieser Gemeinschaft auf alle erdenklichen Berufe vorbereiten. So gibt es Friseure, Tischler, Photographen, Flugzeugbaues Keramiker und Töpfer, Gärtner und Farmer. Musik wird besonders gepflegt, ein Lieblingsgegenstand Father Flanagans. Es gibt einen großen Knabenchor mit 100 Stimmen (eine Lieblingsgründung F. Flanagans), ähnlich der Wiener Sängerknaben, eine Stadt- und eine Tanzkapelle. Einmal im Monat findet eine große Tanzveranstaltung statt, zu der aus Omaha Mädchenschulen eingeladen werden. Der Sport in allen seinen

Zweigen (Fußball-Rugby, Korbball, Baseball, Boxen, Schwimmen usw.) nimmt einen großen Raum ein, da Father Flanagan der Überzeugung ist, daß er, richtig vermittelt und auSigeübt, den Begriff des „Fair Play“ in Fleisch und Blut übergehen läßt und auch die Kameradschaft und Charaktereinheit fördert. Wer selber Sport getrieben hat, der weiß, daß er Enthaltsamkeit fordert, wenn gute Leistungen erzielt werden sollen. Nach einem richtigen Training wird man vom „Fleische nicht mehr gepeinigt“, womit auch das auf gebauschte „sexuelle Problem“ weitgehend gelöst wird. Ebenso wie die Musik, kann auch der Sport, immer in der richtigen Zuordnung auf die höheren Dinge hin, geübt, zu einem wertvollen Erziehungsmittel eines edlen und gefestigten Menschentums werden, nur darf er nicht in Selbstzweck und Rekordsucht ausarten. Wohl das bedeutendste Erziehungsmittel aber liegt darin, die Knaben früh mit der Selbstverwaltung vertraut zu machen. Man hat es in Boys Town mit einer Miniaturdemokratie zu tun. Fritz Popp hat sie schon eingehend geschildert. Zweimal im Jahr finden Wahlen mit allen dazugehörigen Propagandafeldzügen und Wahlreden statt. Jede Wohnanlage hat einen Verordneten. Aus diesen Verordneten wählen die Knaben vier Ratsleute und einen Bürgermeister. Diese haben auch den Vorsitz im Jugendgericht, das Übertretungen der Stadtordnung bestraft.

Auf Einladung General K e y e s’ und der amerikanischen Armee ist Father Flanagan jetzt in Österreich eingetroffen, um hier Einblick in die Situation unserer Jugend zu nehmen und sich an Ort und Stelle über die Schwierigkeiten ihrer Entwicklung zu informieren. Er wird auch bestrebt sein, auf die Beziehungen der amerikanischen Besatzungsstreitkräfte zur österreichischen Jugend positiv einzuwirken. In diesem Sinne hielt er Mittwoch, 17. März, über den amerikanischen Soldatensender (Blue Danube Network) eine Ansprache an die Soldaten, in der er unter anderem sagte, man möge die österreichische Jugend nicht als Spielzeug des Vergnügens betrachten. Es sei nichts dagegen einzuwenden, österreichische Mädchen in Klubs unter anständigen gesellschaftlichen Bedingungen zu treffen, aber man möge nicht mit ihnen Trinkgelage veranstalten, ebenso dürfte man auch nicht den Schwarzen Markt begünstigen, da man sonst die moralischen Kräfte einreißen würde, die seit jeher in der christlichen österreichischen Jugend anerkannt worden sind. — „Betrachtet die österreichische Jugend vielmehr als kostbare Instrumente in den Händen Gottes und ihres Landes. Wenn ihr dies tut, wird die Jugend von den Prinzipien der christlichen Demokratie inspiriert werden."

Wer diesen Mann, dem man die 62 Lebensjahre nicht anmerkt, gesehen und mit ihm gesprochen hat, fühlt, daß hier ein Mensch der guten Tat erschien, der mitten in der scheinbaren Ausweglosigkeit einer absinkenden Welt, unbeirrbar seiren Weg fortsetzt. Das ist einer, der nicht fragt: Wird es gelingen, werden wir die Menschheit vor dem

Abgrund bewahren können, oder, ist es zu spät, nützt es noch, die Hände zu regen und anderes mehr?, sondern die Hemdärmel aufkrempelt und im lauten und im stillen an der Wiedergenesung jenes Teiles der Menschheit arbeitet, der einmal die Führung und Initiative haben wird: der Jugend.

In Amerika gibt es zwei Hauptkomponenten des Fortschrittsgedankens: jene, die dem rasanten Siegeszug der Naturwissenschaft und Technik kompromißlos huldigt, von der Vollautomatisierung des Milieus, dem Elektronengehirn einer Fahrt in den Kosmos und Wettergöttlidikeit usw. träumt und über der Beherrschung der Naturgewalten, die Beherrschung der Dämonie der Menschenseele übersieht, und jene, welche an den Sieg des Guten auch schon in dieser Welt glaubt, oder wenn nicht glaubt, daran baut und weiß, daß der wahre menschliche Fortschritt nur dann erzielt wird, wenn durch die Unterwerfung des Menschen unter Gott und seine Gebote, die dämonischen Gewalten seiner Seele eingedämmt und geläutert werden und ihn so zu einem vollwertigen, verträglichen Staatsbürger machen. Hier steht nun Father Flanagan, der die Dämonie des erwachsenden Menschen am Ausbrechen verhindert, indem er di Jugend zum Guten führt, ihr die Anständigkeit, Ehrlichkeit, die Überzeugung von der Notwendigkeit des „Fair Play“ innerhalb der Beziehungen der menschlichen Gemeinschaft in Boys Town für ihr ganzes Leben einprägt. Die meisten seiner Kinder hatten keine Erziehung in der Religion gehabt. Er aber besteht darauf, daß sie diese Erziehung erhalten, so wie ein guter Familienvater darauf bestehen würde, daß seine Kinder erzogen werden und Gelegenheit bekommen, den Glauben ihrer Väter zu üben.

Mir aber wurde an diesem Manne klar, was für uns, die wir an einer Weltvölkergemeinschaft des Friedens arbeiten, heilige Pflicht ist: Wenn wir auch vor gewissen eschatologischen Anzeichen unserer Gegenwart erschrecken möchten, so müssen wir doch, wie dieser Mann, in erster Linie Optimisten der guten Tat sein und unentwegt und mit allen Hilfsmitteln der Moderne an dem Reich Gottes hier auf Erden bauen, komme, was da wolle.

Wie machen wir aus der Jugend von heute, die einem krassen Materialismus — ohne eigene Schuld — verfallen ist, die dem Stofflichen, der Kleidung, Nahrung und dem flachen Vergnügen nachjagt, Idealisten, das heißt in diesem Falle, anständige verträgliche, gutwillige, gerechte Menschen, die dem Staate geben, was des Staates ist, und Gott, was Gottes ist.

Father Flanagan weiß uns über die Lösung dieses Problems Konkretes zu sagen. Wir in Österreich haben zwar weder die Großzügigkeit des Raumes noch der Mittel wie die Amerikaner, aber es wäre notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, wie man die Anregungen dieses Werkes, welches nichts als eine moderne überkonfessionelle Nachfolge Don Boscos ist, auf österreichische Verhältnisse zugeschnitten, verwerten könnte.

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