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Die Stadt der Broder

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„Nach Boys Town“, sagte man mir am Bahnhof, „fahren Sie folgendermaßen“. Und nun erklärte man mir' den Weg dorthin so, als ob ich um eine Zugsverbindung nach Chicago oder New York gefragt hätte. Am Schalter der Autobusgesellschaft blätterte der Beamte im Kursbuch, ließ seinen Finger eine Kolonne von Zahlen hinuntergießen' und wies sdiließlich auf einen Namen: „Boys Town“, sagte er, „zehn Meilen westlich von Omaha im Staate Nebraska.“. Und als ich sdiließlich im Automobilklub meine Mitgliedskarte züdcte, um zu erfahren, ob es nicht doch besser sei, den eigenen Wagen nach Nebraska zu lenken,! da nahm der Herr eine Straßenkarte aus dem Fach, breitete sie auf dem Pult aus und wies mit dem Bleistift auf einen kleinen Punkt. „Hier ist Boys Town“, sagte er, „Father Flanagans Boys Town“.

Wenn in Wien jemand eintrifft, den die Stadt ehren will, dann erscheint ein Vertreter der Gemeinde, um den Gast zu begrüßen. Auch in Boys Town erscheint einer und sagt „Welcome in Boys Town“. Aber er ist kaum achtzehn Jahre alt und ein Junge, wie alle seine Mitbürger.

Boys Town ist die Leben gewordene Behauptung des Priesters Flanagan, daß ein Junge, sobald man sein Verantwortungsbewußtsein geweckt hat, Selbstvertrauen gewinnt und völlig fähig wird, sich selbst zu regieren. Es ist der zur Wirklichkeit gewordene Ausspruch Father Flanagans, daß Verantwortlichkeit den Charakter bildet. Boys Town, ein Gemeinwesen, das in das ! amerikanische Städteregister offiziell eingetragen ist — ist eine Gemeinschaft von Knaben, die sich selbst regiert, eine Stadt der kleinen Leute.

Zweimal jährlich werden in Boys Town Wahlen abgehalten. Fähige Knaben mit gesunden Anschauungen und einwandfreier Moral werden von ihren eigenen Kameraden als Kandidaten aufgestellt. Es werden ein Bürgermeister, vier Gemeinderäte, siebzehn Abteilungsvorstände, ein Richter, ein städtischer Anwalt und ein öffentlicher Ankläger gewählt. Die Bürger von Boys Town lernen durch ihre persönliche Ausübung der Gemeindegeschäfte den Unterschied zwischen guter und sdilechter Regierung kennen und daraus Folgerungen ziehen. Die Pflichten der Gemeindefunktionäre sind genau dieselben, wie diejenigen in jeder anderen amerikanischen Stadt. Nehmen wir zum Beispiel den Verwalter der Parkanlagen, Er hat 25 Buben in seiner Ab-teilung, die an der Instandhaltung der öffentlichen Anlagen mitwirken. Jedes Wohnhaus, das meist 20 Knaben beherbergt, hat seinen eigenen, von den Kameraden gewählten Verwalter ,der verantwortlich ist für das Verhalten aller Jungen seiner Abteilung. Die Wahlen sind natürlich geheim und spielen sich unter fast den gleichen Erscheinungen ab wie Wahlen Erwachsener in New York oder Washington. Da werden Versammlungen abgehalten und Reden gehalten, Umzüge finden statt mit Musik und Gesängen Flugzettel werden ,verteilt, die von Jungen in der eigenen Druckerei hergestellt wurden, und am Wahltage erscheinen alle Bürger vor der Urne, denn sie haben erkannt, daß es zu den Pflichten eines guten Bürgers gehört, an der Verwaltung des Gemeinwesens mitzuwirken, in dem sie das Stimmrecht ausüben, da$ ihnen ihre demokratische Verfassung einräumt.

In Boys Town gibt es neben den Verwaltungsgebäuden und Wohnhäusern mehrere Schulen, ein Postamt, eine Bank, ein Fürsorgeamt, eine Druckerei, Bibliothek, Laboratorien, Turnhallen, Werkstätten, ein Stadior}, eine Schwimmhalle, eine Farm mit Kühen und anderen Haustieren, Felder und Gemüsegärten, Garage und Dampfwäsdierei, eine schöne Kirche und alle anderen Einrichtungen, die es sonst noch in einer Stadt geben mag. Uberall stehen Jungen an Werktischen, bedienen Knaben die Setzmaschinen in der Druckerei, melken Buben die Kühe. Im Postamt schaut ein Jungengesicht hinter dem Schalter hervor, in der Tapeziererwerkstätte wühlt gerade ein Knabe in den Eingeweiden eines Polsterstuhles, in der Bibliothek sitzen schweigend Knaben über ihre Bücher gebeugt. Buben verteilen die gereinigte Wäsche auf die einzelnen Wohnhäuser, wo sie von jugendlichen Verwaltern in Empfang genommen wird. In der Küche rühren junge Köche, die weiße Mütze auf dem Kopf, in der Suppe, am Felde helfen jugendliche Arbeiter bei der Saat oder Ernte, ja sogar hinter den Fensterscheiben des Barbiers sieht man den zukünftigen Haarschneider, wie er, die Schere in der Hand, seine Kameraden auf den künftigen Frühling zustutzt.

Religion wird in Boys Town nicht irgendwie überbetont. Aber sie ist da, es wird darauf gesehen, daß Knaben katholischen Glaubens dreiÄl in der Woche zur Messe gehen. Protestanten haben an zwei Wochentagen und am Sonntag Gottesdienst, und Jungen jüdischer Religion werden jeden Freitag Abend ins naheliegende Omaha gebracht, damit sie am Samstag dem Sabath-Gottesdienst beiwohnen können. Boys Town ist eine freie Stadt. In ihr gibt es keine Rassen- oder Religionsunterschiede. Ihr geistiges Oberhaupt, Begründer und Direktor, ist der Right Reverend Monsignore Edward Joseph Flanagan, ein katholischer Priester, der im Jahre 1886 in Irland geboren wurde, in Amerika und Europa studierte — darunter auch von 1909 bis 1912 an der „Jesuit University“ in Innsbruck — und der 1912 in Innsbruck zum Priester geweiht wurde. Ihm zur Seite stehen als Lehrer Mitglieder der Sekte der Christian Brothers und Verwaltungspersonal,

Monsignore Flanagan, oder wie man ihn in Amerika nennt, „Father“ Flanagan, begann sein Werk als Leiter einer Art Obdachlosenasyl und Ausspeisung für heruntergekommene Männer. Unter seinen Gästen befanden sich Spieler und Trunkenbolde, Landstreicher, Abenteurer und entlassene Sträflinge, Verkommen und Verzweifelte. Die Fälle, in welchen es Father Flanagan gelang, soldie Männer wieder ifi die Gesellschaft einzureihen, waren nicht sehr zahlreich. Er erkannte nur zu bald, daß es sich in fast allen Fällen um Opfer einer verlorenen Jugend handelte, um Kreaturen, die nie ein Heim besessen hatten, die man vernachlässigt hatte, an denen niemand ein Interesse hatte. Er wußte, daß dieses Interesse gerade in der Jugend, in welcher der Mensch geformt wird, von entscheidender Wichtigkeit ist. Dieses Wissen veranlaßte den Idealisten Flanagan, schließlich die Versuche, bereits alt und morsch gewordene Stämme zu biegen, aufzugeben. Er lieh sich 90 Dollar aus und bezahlte mit diesem Betrag den Mietzins eines zweistöckigen Hauses für den ersten Monat. Vom Jugendgericht erhielt er zwei Knaben zugewiesen, drei weitere las er von der Straße auf; Zwei Wodien später, zu Weihnachten 1917, hatte er bereits fünfundzwanzig Buben in seinem Heim, und als das Haus schließlich zu klein wurde, kaufte er eine 160-Acres-Farm. Heute ist das Gebiet, auf dem Boys Town steht, auf 900 Acres angewachsen. Tausende verlassene Jungen haben bisher in dieser Stadt Heim, Erziehung und Liebe gefunden.

Boys Town in Amerika ist ein System. Es ist ein Erziehungssystem, das von dem Erzieher Flanagan erfolgreidi verwirklicht wurde. Seine Erfolge — in vielen Fällen, wo andere Versuche versagt haben — sind nicht zu einem geringen Maße auf das Vertrauen zurüdtzuführen, das Father Flanagan in seine Buben setzt. Viele dieser heimatlosen, gestrauchelten oder sonstwie vom Schicksal stiefmütterlich behandelten Jungen sind solange herumgestoßen und vernachlässigt worden, bis sie das Vertrauen zu sich selbst verloren hatten. Selb s t-vertrauen und Selbstachtung sind Voraussetzungen, um ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, und das gesamte Programm Father Flanasans, sämtliche Einrichtungen von Boys Town sind auf dieses Ziel abgestellt.

An den Schulen Boys Towns hat der Schüler ebenso Gelegenheit, irgendein Handwerk zu erlernen, als sich auch auf die Universität vorzubereiten oder sich einmal den sdiönen Künsten zu widmen. Boys Town hat ein Orchester, an dem Knaben mitwirken, und der Knabencbor der Stadt ist im ganzen Lande bekannt. Das Wissen um die eigene Fähigkeit ist ein wichtiges Vitamin in der Bildung von Selbstvertrauen und Charakter, sagt, Father Flanagan. Derselben Theorie dienen audi die sportlichen Einrichtungen der Stadt.

Wie wird Boys Town finanziert? Father Flanagan erhält keinerlei Unterstützung von irgendeiner privaten Gruppe oder Kirche. Boys Town steht nicht im Budget der Regierung des Landes oder der Verwaltung des Staates Boys Town erhält sich aus freiwilligen Beiträgen großherziger Männer und Frauen aus allen Teilen des amerikanischen Volkes, die, wie der Begründer der Stadt daran glauben, daß jeder Bub ein Anrecht auf einen Platz an der Sonne hat.

Father Flanagan erzählt gerne die kleine Geschichte von einem achtjährigen Buben, der nach einem Bankraub nach Boys Town kam. Dieser kleine Kerl war ein tragisches Beispiel vernachlässigter Jugend. Er verursachte besondere Schwierigkeiten bei allen Versuchen, ihn für die Gemeinschaft wieder zu gewinnen. Father Flanagan mußte viele und lange Spaziergänge mit ihm unternehmen, um in die Seele dieses kleinen Sünders einzudringen, der an seinem Schicksal so unschuldig war. Doch eines Tages sprang schließlich die Türe auf, ganz plötzlich, ohne vorherige Ankündigung. Der Bub ergriff die Hand seines Freundes, blickte hinauf in das gütige Gesicht Father Flanagans und sagte: „Was heißt das eigentlich: beten?“ In diesem Augenblick wußte der Erzieher Flanagan, daß er wieder e nen Menschen gerettet hatte.

Während idi diesen Bericht über Boys Town schreibe, fällt mein Blick auf ein Bild gegenüber an der Wand. Ein Junge stapft durdi hohen Sdinee. Auf sein|m Rücken trägt er einen kleinen Knaben, der vor Müdigkeit eingeschlafen ist. Sein Kopf ruht auf der Schulter des marschierenden Knaben, der mit seiner lebendigen Last einem großen Gebäude im Hintergrund zueilt, dem Verwaltungsgebäude von Boys Town. Sein Gesidit ist rot von der Winterkälte. Seine Augen blitzen. Er lächelt. Er sagt: „Er ist nicht schwer, Vater. Gar keine Spur. Er ist doch mein Bruder.“ Und ich kann mir nicht helfen: Angesichts Boys Towns fällt mir die Hitlerjugend ein. Ich erinnere mich an alle die katholischen, protestantischen und jüdischen Buben, in deren kleines Leben ich. sdion hineingeschaut habe und die nun im Krieg gefallen sind oder ermordet wurden oder aber auf einen neuen, besseren Führer, auf eine neue Idee warten. Da wird es mir warm ums Herz. Ich bin glücklich, daß es noch immer Father Flanagans gibt, Männer die sagen: „Er ist nicht schwer. Gar keine Spur. Er ist doch mein Bruder.“ Mein Bruder!

Die Menschen können nicht frei werden, ohne zur Freiheit erzogen zu sein. Und diese Erziehung findet man nicht in Schulen und erlangt man nicht aus Büchern, sondern sie besteht aus Selbstbeherrschung, aus Selbstgefühl und aus Selbstregierung. Buckle: .Hislory of Civilisation“

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