Der Don Bosco des 20. Jahrhunderts

19451960198020002020

Vor 50 Jahren starb der aus Irland stammende Jesuit Joseph Edward Flanagan, der legendäre Gründer der Bubenstadt "Boys Town".

19451960198020002020

Vor 50 Jahren starb der aus Irland stammende Jesuit Joseph Edward Flanagan, der legendäre Gründer der Bubenstadt "Boys Town".

Werbung
Werbung
Werbung

Die verlassene, heimatlose, elternlose Jugend ist meine erste Sorge." Edward Joseph Flanagan, geboren am 13. Juli 1886 in der irischen Grafschaft Roscommon, aufgewachsen und fürsorglich betreut in einer großen, christlich geprägten Familie, hat mehr als dreißig Jahre, ziemlich genau die Hälfte seines Lebens, als Seelsorger und Erzieher unter diese Aufgabe und Sorge gestellt.

Über Colleges, Seminare und Universitäten in Irland, den USA (Maryland und New York) und Rom führten ihn seine (wiederholt durch Krankheiten unterbrochenen) Studien schließlich nach Innsbruck, wo er im Collegium Canisianum der Jesuiten Aufnahme fand und am 26. Juni 1912 zum Priester geweiht wurde. In den Annalen des Canisianums ist verzeichnet, daß er dazu prädestiniert sei, auf dem Gebiete der Jugendfürsorge Großes zu leisten.

"Wenn du heute einem jungen Menschen hilfst, schreibst du die Geschichte von morgen." Der 12. Dezember 1917, der Tag, an dem Father Flanagen eine Handvoll verlassener, verwahrloster, am Rande der Kriminalität lebender Buben in ein bescheiden ausgestattetes Haus in der Dodge-Straße in Omaha, Nebraska, aufnahm, ist der Beginn der Geschichte von "Boys Town". Vier Jahre später - das Heim war in der Zwischenzeit in ein größeres Haus verlegt worden, mehr als 1.300 Buben hatten für kürzere oder längere Zeit Betreuung gefunden - konnte ein zirka 70 Hektar großes landwirtschaftliches Areal erworben werden, zehn Meilen westlich von Omaha gelegen, in der geographischen Mitte zwischen atlantischer und pazifischer Küste. "Overlook-Farm" hieß der Platz, welch ein symbolischer Name in der Interpretation als Übersicht, Nachsicht und Umsicht! Durch bauliche Entwicklung und innere Gestaltung wurde der Ort zu "Boys Town". Und "Boys Town" war bereits weithin bekannt und anerkannt, als 1938 der Film "Boys Town" mit Spencer Tracy in der Rolle des Father Flanagan Weltpremiere hatte. Den "Academy Award" ("Oscar"), den Tracy für diese künstlerische Leistung erhielt, schenkte er "Boys Town", wo er noch heute ausgestellt ist.

"Nur durch Liebe, Verstehen und gütige Behandlung kann man zur Seele des jungen Menschen vordringen." Die Pädagogik der Vorsorge, wie sie Don Bosco mit der Methode "prevenire e non reprimere" in der Erziehung gefährdeter und verwahrloster Jugendlicher entwickelt, in der familiären Gemeinschaft von Erziehern und Jugendlichen grundgelegt und mit dem Erziehungsziel des verantwortungsbewußten christlichen Menschen verbunden hatte, schlägt in den Ideen von Father Flanagan durch. "Für mich gibt es kein Erziehungsgeheimnis, keine pädagogischen Theorien und Allheilmittel. Ich erziehe die Buben, indem ich ihnen die Vitamine des Lebens vermittle: Liebe, Verständnis und das Wissen um einen gütigen Gott. Für mich gibt es keine unerziehbaren Fälle."

Eine verblüffend schlichte und zugleich unendlich schwierige Erziehungsaufgabe, die hier gestellt wurde (wie rasch ist doch Pestalozzi mit ähnlichen Grundsätzen in seinem Stanser Waisenhaus 1798/99 gescheitert)! In Flanagans "Bubenstadt" wurde zugleich sehr konsequent eine "pragmatische Pädagogik" verfolgt: Unterricht (in den eigenen Schulen), Arbeit (in der eigenen Landwirtschaft und in eigenen Betrieben - Father Flanagan war ein leidenschaftlicher Verfechter der praktischen Tätigkeiten in Handwerk und Gewerbe), Sport, Spiel und Musik (der Chor von "Boys Town" besitzt einen hervorragenden Ruf).

"Es ist Gottes Werk, und nicht meines." Ein wesentliches Kriterium der fundierten Organisation dieser großen Jugendgemeinschaft war und ist die (behutsam betreute) Selbstverwaltung, zugleich ein entscheidendes Instrument für die Erziehung zur persönlichen und sozialen Verantwortung. Vor dem Hintergrund der Entwurzelung junger Menschen (Arbeitslosigkeit, Elternlosigkeit, Verwahrlosung, Sucht, Kriminalität) sowie der verschiedenen Konfessionen und Rassen entstand und entsteht immer wieder neu die freiwillig übernommene Gemeinschaftsordnung. Dadurch wurde "Boys Town" zum bedeutendsten sozialpädagogischen Werk in der Geschichte des Erziehungswesens. (Ein nicht uninteressanter Vergleich sei angedeutet: 1920 - nur kurze Zeit nach der Gründung von "Boys Town" - begann der ukrainische Erzieher und Schriftsteller Anton Semjonowitsch Makarenko auf der Grundlage der Kollektiverziehung mit dem Aufbau von "Kolonien für jugendliche Rechtsbrecher" in der UdSSR).

"Boys Town" in Omaha, heute unter der Leitung von Father Valentine J. Peter, seinem vierten Direktor, ist die "Bubenstadt" geblieben, obwohl seit bald zwanzig Jahren auch Mädchen aufgenommen werden. Die Siedlung ist zu einer kleinen Stadt geworden, die auf etwa der Hälfte ihres fast 400 Hektar großen Grundbesitzes Landwirtschaft betreibt und in der zahlreiche neue Häuser für die Jugendlichen und die sie betreuenden Familien, Kirchen, Gemeinschaftszentren, Schulen, Sporteinrichtungen, Häuser des Gesundheitsdienstes und für kulturelle Veranstaltungen gebaut wurden. Von Omaha aus wurde das Programm "Boys Town USA" entwickelt, durch das in mehreren Staaten ähnliche Einrichtungen geschaffen wurden. Jeweils bleibt als wesentliches Ziel die Sorge um Jugendliche in Krisensituationen.

Father Flanagan wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als der weltweit anerkannte und führende Sozialpädagoge und Jugenderzieher zu Beratung und Hilfe nach Japan, Korea, Österreich und Deutschland gerufen. Während seines Aufenthaltes in unserem Land (März bis Mai 1948) besuchte er natürlich Innsbruck (auch vor dem Krieg hatte er Besuche in seiner Heimat Irland mit kurzen Aufenthalten in Tirol verbunden), die längste Zeit aber weilte er in Wien.

In zahlreichen Gesprächen, Diskussionen und Vorträgen befaßte er sich mit der von ihm beobachteten Situation der Jugend und dem Aufbau der Fürsorge- und Wohlfahrtseinrichtungen. Scharf kritisierte er den Zustand der Jugendgefängnisse, enge Kontakte knüpfte er zur Jungarbeiterbewegung (Bruno Buchwieser), sehr beeindruckt war er von den Leistungen der Stadt Wien auf den Gebieten der Jugenderziehung, warnte dabei aber eindringlich vor einem "erzieherischen Leerlauf, in den alles ohne Anerkennung eines gütigen Gottes münden müsse".

Der österreichische Historiker Georg Wagner, der in diesen Wochen Father Flanagan als Dolmetscher und Sekretär unterstützte, nennt in seinem Buch über "Father Flanagan und seine Jungenstadt" unter den Gesprächspartnern des Gastes besonders Friedrich Funder und erwähnt dabei die ausführliche Würdigung von "Boys Town" in der Furche.

Von Wien reiste Father Flanagan über Frankfurt nach Berlin, wo er am 14. Mai ein intensives Arbeitsprogramm absolvierte. In der Nacht erlitt er einen schweren Herzanfall. Er starb am Samstag, dem 15. Mai 1948, um zwei Uhr früh im Berliner Militärhospital.

Die Inschrift auf seiner Grabstätte in "Boys Town" bezeugt seine "Liebe zu Christus und den Menschen".

Der Autor, Sektionschef i. R., ist Kurator der Stiftung Theresianum in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung