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E. J. Flanagans schwerster Fall

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Am 14. Mai 1948 erlag Monsignore Edward Joseph Flanagan in Berlin einem Herzanfall. Der berühmte Gründer der Boys’ Town Ln Nebraska hatte eben erst Österreich verlassen, wo er sich in wenigen Wochen viele große und kleine Freunde gewann. Seine reiche Erfahrung als Erzieher war nötig in Österreich und in Deutschland — zwei Ländern, in denen in der Folge des Krieges die Jugendkriminalität weiter ansteigt.

Vater Flanagan, der am 13. Juli 1886 in Leabeg House in der Grafschaft Roscommon in Irland als Kind armer Eltern geboren wurde, hatte am eigenen Leib erfahren, was Elend heißt. Mit achtzehn Jahren wanderte der junge Flanagan — wie alljährlich Tausende seiner Landsleute — nach Amerika aus und bereitete sich dort auf sein Priestertum vor. Aus dem jungen Studenten der Theologie wurde dann einer der größten Jugenderzieher der Welt.

Als er vor seinen Mitbürgern immer wieder erklärte, „es gibt keine schlechten Kinder. Es sind die Eltern, die schlecht sind, nie die Kinder”, waren die Eltern in ganz

Amerika erstaunt und erregt über diese Beschuldigung. Vater Flanagan setzte seinen Weg unbeirrt fort. Ihm war diese Erregung recht, denn sie diente dazu, die öffentliche Meinung über das wahre Wesen des Problems der Jugendkriminalität aufzuklären. Br war überzeugt, daß es möglich sei, anständige und tüchtige Menschen aus verwahrlosten Kindern zu machen, und steckte mit seiner Überzeugung zunächst einige verständnisvolle Bürger an, die ihm die hundert Dollar gaben, die er für den Anfang brauchte. Mit diesem Geld schuf er ein Heim für fünf elternlose Herumtreiber. Aus diesen bescheidenen Anfängen entstand die weltberühmte Boys’ Town bei Omaha in Nebraska, die in der „Furch e” eine gebührende Schilderung, vor allem durch die persönlichen Mitteilungen P. Flanagans erhalten hat.

Die folgende Geschichte zeigt anschaulich, was Vater Flanagan darunter verstand, wenn er immer wieder — auch in Österreich — sagte: „Es gibt keine schlechten Kinder!” ‘

In einer Winternacht kam einmal ein Überlandanruf in jene Gemeinde von Nebraska, die in der ganzen Welt als „Boys’ Town” bekannt ist: „Vater Flanagan? Hier spricht Sheriff Hosey aus Virginia. Haben Sie noch Platz für einen Buben? Es ist sehr dringend!”

„Wo ist er nun?”

„Im Gefängnis. Er ist ein Desperado. Hat

eine Bank und drei Geschäfte beraubt.”

„Wie alt ist er?”

„Achteinhalb.”

Der großgewachsene, blauäugige Priester glaubte nicht recht zu verstehen: „W i e alt?”

„Lassen Sie sich durch das Alter nicht tuschen. Er ist all das, was ich gesagt habe und noch mehr. Können Sie ihn uns abnehmen?”

Schon viele Jahre hatte Vater Flanagan unerwünschte Kinder einer Gesellschaft abgenommen, die sich nicht zu helfen wußte; Buben jeden Alters, jeder Rasse und jeder Konfession. „Wenn ich nicht imstande wäre, mit einem Achtjährigen fertig zu werden, dann — müßte ich meinen Beruf aufgehen”, sagte er. „Also, bringen Sie ihn her!”

Drei Tage später lieferten Sheriff Hosey und seine Frau ihren Häftling in Vater Flanagans Büro ab. Da stand nun ein unnatürlich blasser Junge mit einem Bündel unter dem Arm. Er war kaum höher als der Schreibtisch. Zerrauftes, schokoladebraunes Haar hing ihm in da verkniffene Gesicht. Die verstockt dreinblickenden Augen waren halb geschlossen. Von einer Seite des Mundes hing eine Zigarette in einem theatralischen Winkel herab. „Sagen Sie ihm nichts wegen des Rauchens”, bat der Sheriff. „Wir mußten ihn mit Zigaretten bestechen.”

Die Frau des Sheriffs legte einen Umschlag auf den Tisch. „Da haben Sie die ganze Beschreibung”, sagte sie böse. „Das ist noch nicht einmal die Hälfte davon. Dieser nichtsnutzige Verbrecher ist nicht wert, daß man ihm hilft. Wenn Sie mich fragen, das ist ja kein menschliches Wesen! Also, leben Sie wohl und ich wünsche Ihnen viel Glück! Sie werden es brauchen!”

Vater Flanagans Herz wird durch seine Liebe zu Gott und den Menschen — und besonders zu den jungen — erwärmt. Als er dieses abgerissene Zerrbild der Jugend ansah, fiel dem Priester ein, daß er noch nie eine solche Mischung von Komik und äußerster Tragik und Not gesehen hatte. Nachdem er den Neuankömmling gebeten hatte, sich zu setzen, begann Vater Flanagan die Beschreibung zu lesen. Man hatte den Familiennamen des Buben vergessen; er wurde bloß Eddie genannt. In einem Elendsviertel, nahe den Hafendock von Newport News zur Welt gekommen, hatte er Vater und Mutter in einer Influenzaepidemie verloren, ehe er noch vier Jahre alt war. Von da an hatte er kein ständiges Heim mehr und lebte, herumirrend, wie ein herrenloses Tier.

Die Not schärfte seinen Verstand und seinen Willen. Mit noch nicht acht Jahren war er der Häuptling einer Bande von Buben geworden, von denen manche zweimal so alt waren als er. Indem er sich ein Beispiel an den erwachsenen Banditen seiner Nachbarschaft nahm und alle die kleinen Gaunereien gut plante und vorbereitete, ei warb sich Eddie den Respekt seiner Bande. Bis eines Tages sein Ruf von einem Mitglied an- gezweifelt wurde: „Du traust dich ja nicht, selbst etwas zu tun. Du bist kein richtiger Anführer!”

„Ich werde dir’s schon beweisen”, erwiderte Eddie. „Ich werde etwas tun, was sich keiner von euch trauen würde. Ich werde einen Bankraub ausführen!”

Die Bank befand sich in einem altmodischen Gebäude. Während die meisten der Beamten ihren Lunch einnahmen, schlich sich Eddie ein und schlüpfte zu einem leeren Schalter. Er war noch so klein, daß er sich aufstemmen mußte, aber es gelang ihm, bin Bündel Banknoten zu packen und in seiner Jacke zu verbergen. Er kam dann ebenso ungesehen wieder hinaus und verteilte die erbeuteten 200 Dollar unter seinen Kameraden. Aber dieser Raubzug brachte ihm keinen Ruhm, denn die Bank verheimlichte den Diebstahl und so konnten die Zeitungen nichts über ihn berichten.

„Du hast uns angeschwindelt”, sagten seine Verbrecherkollegen. „Du hast das Geld irgendwo gefunden.”

Eddies Antwort bestand darin, daß r für einige Tage verschwand. Jemand hatte ihm einen Revolver verkauft und er übte sich draußen im Wald im Schießen. Diesmal waren die Zeitungen voll von seinen Taten. In einer ruhigen Stunde betrat er ein Restaurant, richtete seine Pistole auf den erschrockenen Kassier und nahm sich die Tageslosung. Das nächste Mal zog er einen Pack Banknoten aus der Tasche eines angeschüchterten Schneiders. Sein dritter Besuch galt einer alten Frau, die ein Bonbonsgeschäft hatte.

„Leg’ das sofort nieder”, rief die alte Dame, „bevor du dir wehtust!” Sie schlug ihm die Pistole aus der Hand und packte ihn beim Haar. Er schlug verzweifelt um sich; er hätte sie getötet, wenn ihre Schreie nicht die Polizei herbeigerufen hätten. Und so war nun Eddie nach Boy’s Town gekommen.

Vater Flanagan legte die Beschreibung beiseite, und sah sich den jungen Bösewicht an. Eddie saß unbeweglich mit gebeugtem Kopf da, so daß man nidn viel von seinem verstockten Gesicht sah. Während der Mann auf ihn sah, zog das Kind einen Tabaksbeutel u d Zigarettenpapier hervor. Nach Art der Cowboys drehte er sich mit einer Hand eine Zigarette und zündete sie an. Dann hauchte er einen Rauchring über den Tisch. Für einen Augenblick hob der Bub seine Lider, um zu sehen, wie der Priester das aufnahm.

„Eddie”, begann Flanagan, „sei willkommen bei uns. Du weißt, daß der ganze Ort von den Buben geleitet wird. Ein Bub als Bürgermeister, Buben ak Stadträte, ein Bub als Chef der Polizei.”

„Und wo ist das Loch?” fragte Eddie mürrisch.

„Wir haben’ kein Gefängnis. Du wisst jetzt ein Bad nehmen und dann Nachtmahl essen. Morgen fängst du in der Schule an. Du und ich können gute Freunde werden — wenn du willst. Ich hoffe, daß ich didi eines Tages wirklich in mein Herz schließen kann. Ich weiß, daß du ein braver Junge bist.”

Die Antwort bestand in einem kurzen, abscheulichen Wort.

Gegen zehn Uhr am nächsten Morgen öffnete sich die Tür zu Vater Flanagan Büro und der neue Schüler stolzierte herein. Sein Haar war geschnitten und ordentlich gekämmt und er war rein. Mit dem Ausdruck größter Unbekümmertheit warf er ein Briefchen eines der Lehrer auf den Tisch: „Lieber Vater Flanagan! Wir haben Sie tausendmal sagen gehört, daß es keine schlechten Buhen gibt. Würden Sie mir, bitte, erklären, was Sie diesen nennen?”

Vater Flanagan ging in das Klassenzimmer. Die Stimmung war dort gereizt. Der Lehrer erzählte, daß Eddie etwa eine Stunde ruhig auf seinem Platz gesessen sei. Plötzlich habe er begonnen, zwischen den Bankreihen auf und ab zu gehen, wobei er fluchte wie ein Matrose und alle beweglichen Dinge in seiner Nähe auf den Boden warf. Als er schließlich ein Tintenfaß auf die Gipsbüste Cicero schleuderte, hatte der Lehrer genug bekommen.

Nachdem er Eddie wieder auf seinen Platz gewiesen hatte, entschuldigte sich Flanagan: „Es war meine Schuld. Ich habe vergessen, ihm zu sagen, daß er keine Tintenfässer werfen darf. Er muß sich natürlich so wie wir alle an die Gesetze von Boy’s Town halten. Aber er muß sie zuerst kennenlernen. Wir dürfen niemals vergessen, daß Eddie ein guter Junge ist.”

„Wie der Teufel!” schrie Eddie dazwischen.

Er befwundete sich weder mit den Buhen noch mit den Lehrern. Und für Vater Fla- , nagan hob er sich seine höchste Beschimpfung auf: „Ein verdammter Betbruder!” In seiner freien Zeit schlich er verstohlen umher und suchte eine Gelegenheit zum Weglaufen. Er blieb im Turnsaal wie auf dem Sportplatz stehen, ohne an den Spielen teilzunehmen: „Kinderspiele!” murmelte er. Weder der Chor noch die Kapelle interessierte ihn; die Landwirtschaft langweilte ihn. Und in den ersten sechs Monaten weder ein Lachen noch eine Träne. Bald erhob sich die Frage in Boys’ Town, ob Vater Flanagan nicht seinen Meister gefunden habe.

„Lernt der Kleine denn überhaupt nichts?” fragte der Priester die Schwestern.

„Er nimmt irgendwie sein ABC auf”, war die Antwort. „Eigentlich lernt er sogar mehr, als er zu erkennen gibt. Aber er ist von Haß zerfressen.”

Das war nicht der erste schwere Fall, mitdem Vater Flanagan zu tun hatte. Ein Bub hatte seinen Vater, der seine Mutter schlug, erschossen. Ein Mörder — aber bloß, weil das Kind seine Mutter liebte. Sobald der Priester das erkannt hatte, war es ihm gelungen, den Buben wieder aufzurichten. Es mußte doch auch etwas in Eddie geben, bei dem man ihn packen konnte. „Ith muß meinen Grundsätzen untreu werden”, überlegte sich Flanagan, „ich werde den kleinen Satan mit Liebe verwöhnen!”

Buben und Lehrer beobachteten die neue Taktik, als ob sie ein sportlicher Wettbewerb wäre. Wenn der Priester an jene Wodien und Monate von geplanten Vergnügungen denkt, schaudert es ihn: Dutzende von Filmen, die er mit dem Buben ansah; die Würstel und die belegten Brötchen, die Süßigkeiten, die vielen Eisportionen und Kracherln, die Eddie seinem kleinen Körper einverleibte.

Doch nicht ein einziges Mal ließ er erkennen, ob ihm irgend etwas gefiel. An Somiiiermorgen pflegte er gleichgültig zum See mitzukommen. Und es entlockte ihm keinen Freudenruf, wenn er eine Forelle fing. Im Gegenteil, eine Apathie schien ihn zu umfangen. Er wurde noch schweigsamer. Nur einmal, gegen Ende des hoffnungslosen Versuches kamen sich Mann und Bub näher: Auf einer Straßenkreuzung in Omaha schaute Eddie in der falschen Richtung, als ein Lastauto auf ihn losfuhr. Vater Flanagan riß ihn noch rechtzeitig zurück. Einen Augenblick leuchtete etwas wie Dankbarkeit in den aufgeregten braunen Augen, aber dann fielen die Lider wieder und der Bub dankte nicht einmal.

Selbst dem Priester begann es nun zu scheinen, daß es hier eine eingewurzelte Schlechtigkeit gebe, gegen die er nicht ankönne. Seine Hoffnung hätte eine ungeahnte Tiefe erreicht, als an einem sanften Frühlingsmorgen Eddie im Büro erschien und verkündete, daß er mit Vater Flanagan abrechnen wolle. Diesmal glühten die braunen Augen des Buben vor Entrüstung. „Sie haben versucht, mich heramzukriegen! Aber nun bin ich Ihnen draufgekommen. Wenn Sie anständig gewesen wären, würde ich Ihnen vielleicht hineingefallen sein. Fast hätte ich mich täuschen lassen. Aber in der Nacht habe ich mir das überlegt und habe den Schwindel erkannt.”

Es gab etwas sehr Ernstes und Erwachsenes an Eddie. Es handelte sich nicht um Frechheit, sondern um Verzweiflung. Der Priester faßte wieder etwas Mut, da er zum erstenmal ein Zittern auf den verkniffenen Lippen wahrnahm.

„Vater Flanagan, Sie sind ein Heuchler!” „Beweis’ das Eddie, oder sei ruhig!” „Okay! Ich habe gerade einer Schwester einen Tritt gegen das Schienbein gegeben. Was sagen Sie dazu?”

„Ich sage noch immer, daß du ein braver Junge bist.”

„Was habe ich Ihnen gesagt? Sie wiederholen immer diese Lüge und wissen, daß es eine Lüge ist. Beweist das nicht, daß Sie ein Heuchler sind?”

„Lieber, himmlischer Vater, das ist seine ehrliche Logik”, dachte Flanagan. „Wie soll ich ihm darauf antworten? Wie soll ich meinen Glauben an ihn verteidigen? Es heißt nun — oder nie mit Eddie! Helfe mir Gott, daß ich das Richtige sage!”

Vater Flanagan räusperte sich. „Eddie, du bist gescheit genug, um zu verstehen, wenn etwas bewiesen ist. Was ist ein braver Junge? Ein braver Junge ist ein gehorsamer Junge, nicht wahr?”

„Mhm!”

„Der immer tut, was ihm seine Lehrer sagen?”

„Mhm!”

„Und das ist das, was du imgver getan hast, Eddie. Dein einziges Pech war, daß du die falschen Lehrer hattest — Hafengangster und Gauner. Aber du hast ihnen brav gefolgt. Du hast all das Schlechte und Verbotene getan, das sie dich lehrten. Wenn du bloß den guten Lehrern hier so folgen würdest, wäre alles in Ordnung.”

Diese einfachen Worte einer unwiderstehlichen Wahrheit waren wie eir.e Teufelsaustreibung. Zum erstenmal sah das kleine menschliche Rätsel verblüfft drein. Dann glitt das Leuchten reiner, wahrer Erleichterung in die braunen Augen und der Bub sah sehnsüchtig auf den Priester. Und mit derselben Erleichterung jauchzte Vater Flanagans Seele auf. Er öffnete weit seine Arme und das Kind schmiegte sich hinein und legte ein tränennasses Gesicht an sein Herz.

Das war vor langer Zeit. Eddie blieb zehn Jahre in Boys’ Town. Als der Krieg begann trat er in die Armee ein.

„Seine Brust”, hob Vater Flanagan hervor, als er ln unserem Kreise dieses Erlebnis erzählte, „ist mit Auszeichnungen bedeckt. Daran ist gar nichts Merkwürdiges. Denn er hatte immer viei Courage. Aber

Gott sei für etwas anderes gedankt: alle Männer in seiner Einheit hatten ihn gern. Er war ihr Bruder. Er ist ein aufrechter Christ. Und das war der schwerste Fall, mit dem ich je zu tun hatte!”

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