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Drei Bäume

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Fast der ganze Ort hatte seinen ältesten Mitbürger, den Neunzigjährigen, gebührend gefeiert. Nun waren Ansprachen, Festmusik und Lieder verklungen. Alt und jung, groß und. klein hätten sich wieder zerstreut. Lediglich ein engster Kreis von Besuchern saß noch mit dem Jubilar um dessen Tisch herum.

Der Mann der Presse hatte, was er von Berufs wegen in Erfahrung oder auf die Platte bringen mußte, in seinem Notizbuch stehen, in seiner Tasche geborgen. Er war mit sich zufrieden. Jetzt saß er dem Gefeierten gleichsam im Zivil gegenüber, Mensch dem Menschen, und begann: „Wissen Sie, Herr Arnold, was ich heute an Ihnen — außer Ihrer Rüstigkeit — am meisten bewunderte? Das war Ihre große, tiefe, unerschütterliche Ruhe. Sie ist Ihnen wohl zur zweiten Natur geworden? Mit wieviel Gelassenheit haben Sie doch auch alle Strapazen dieses Ihres Ehrentages auf sich genommen!“

„Da irren Sie sich, junger Mann!“ wehrte der Alte mit Nachdruck ab. „Das kam Ihnen bloß so vor. Ich habe nur gelernt, mich zu beherrschen. Ich war und bin wie jeder Mensch nach wie vor ausgeliefert an Unruhe, Angst und Sorge. Ein paarmal freilich, und einige Atemzüge lang, war ich wirklich von jenem Gefühl einer großen, tiefen, letzten Ruhe — und Zuversicht — bis zum Rand hin ausgefüllt, das ist wahr. Von rein geistlichen Anlässen wollen wir dabei aus Ehrfurcht lieber absehen. Es bleiben auch dann noch ein paar — warten Sie! —, drei Augenblicke übrig von einiger Bedeutung und von etlichem Wert; irdische Augenblicke. Ja, unsere liebe, gute Mutter Erde hat sogar eine ausschlaggebende Rolle dabei mitgespielt. Es war nämlich fast immer die gleiche Lage, in der jene Ruhe über mich kam und das stärkende Bewußtsein von Geborgenheit. Das gibt zu denken.

Das erstemal, da war ich noch ein Schulknabe. Wir hatten einen prächtigen Lehrer, einen glühenden Idealisten und begeisterten Musiker. Der hatte sich für den herannahenden Gedenktag des von ihm besonders verehrten Tondichters, mit dem er auch uns bereits ein wenig vertraut gemacht hatte, eine hübsche Ehrung ausgedacht. Mitten in meinem Geburtsort gab es neben dem Aufgang zur Kirche zwischen der Friedhofsmauer und dem angrenzenden Feuerwehrdepot einen häßlichen toten Winkel voller Straßenmist, Papierfetzen, Abfall und Unrat. Unser Lehrer hatte es sich in den Kopf gesetzt, hier eine kleine, aber würdige Grünanlage zu schaffen, mit einem Gedenkstein an den geliebten, unglücklichen, früh verstorbenen Meister und mit einer Linde, welche die Schuljugend pflanzen sollte. Er setzte tatsächlich seinen Willen bei der Gemeinde durch. Nun war es so weit. Es wurde ein großer Tag mit Festgedicht und Chören, mit Reden und Gedränge. Doch das alles versank für mich gegenüber dem einen: daß ich — zusammen mit einem Schulmädchen - die kleine Linde pflanzen durfte. Die Baumgrube war am Vortag ausgehoben worden. Der Lehrer hielt das Stämmchen fest. Wir zwei — je ein Knabe also und ein Mädchen der obersten Klasse — schaufelten nun unter lautloser Stille aller Umstehenden langsam und feierlich die Grube zu. Es war ein völlig selbstloses Tun, das uns alle heiligte. Denn sehen Sie, Bäume werden ja auch sonst gepflanzt; durch den Forstmann von Amts wegen und von uns als dem Besitzer hinter dem eigenen Haus im eigenen Garten. Nutzbäume. Auch das ist schön und gut. Aber wieviel Berechnung, wieviel Begehren haftet immerhin an solchem Tun! Diese Schubert-Linde aber — ich konnte nicht anders, ich mußte zum Schluß, als Gruß und zugleich schon wieder als Abschied, leicht über ihre Rinde streichen; sie sollte ja allen und niemandem gehören, dem Toten wie den Lebenden, den Bienen und dem zeitlosen Wind. Ein Gefühl unendlicher Ruhe erfüllte mich, mein Bubenherz', eines unendlichen, tröstlichen Zusammenhanges, auch wenn mir die Worte fehlten. Die Welt, sie mochte so krank wie immer sein, von jetzt an und von hier aus konnte sie genesen!

Das zweitemal, da war ich ein Bursche, so Mitte der Zwanzig. Es war noch in meinen Wanderjahren. Gleichwohl lebte meine gute, alte Mutter, die ich zu erhalten hatte, bei mir. Ihre letzte, schwere Krankheit nun hielt mich in einem Ort fest, von dem ich, allein auf mich gestellt, längst weitergezogen wäre. Jetzt aber war ich froh, sie bis zu ihrem seligen Ende selber betreuen zu können. Sie verging mir, still und friedlich, in meinen Armen, und dann schloß ich ihr die Lider zu. Ich blieb noch so lange im Ort, bis ich ihren Grabhügel ordentlich und für die Dauer anlegen konnte. Als auch das geschehen war, setzte ich, am Morgen meiner Abfahrt, noch ein wetterfestes Sebenbäumchen auf ihr Grab. Und in eben-diesem Augenblick, als hätte meine Trauer sich damit erfüllt, war nur noch Ruhe in mir, eine tiefe, tiefe Ruhe, und ich ging getrost hinweg, was immer mich in der Zukunft erwarten mochte. fc

Das drittemal gefiel es dem Schicksal, mich steinalten Mann noch auf eine unerläßliche Reise zu schicken. Es war gegen Ende des zweiten Weltkriegs. Ich hatte eine Stadt aufzusuchen, die bisher wegen ihrer Spitäler, wegen ihrer besonderen, auch dem Ausland teuren Kunstschätze und vielleicht auch aus anderen Gründen von Fliegerangriffen verschont geblieben war. Ich befand mich erst seit zwei Tagen in der Stadt, zum Glück nicht unmittelbar im Stadtkern, sondern weit draußen am schon aufgelockerten Rande, in einem Villenvorort, da brach das Unheil über sie herein. Es war die Hölle los. Doch unser kleiner Bunker hatte standgehalten. Wir kamen mit dem Leben davon. Wie Auferstandene begrüßten wir, obschon umgeben von Trümmern und Grauen, das Tageslicht. Aber nun hieß es anpacken; für alt und jung, für alles, was noch atmete und zwei heile Hände hatte. Das taten wir denn auch, zäh und verbissen, ja gerade diese Aufräum- und Berge-aibeiten halfen uns über vieles hinweg; denn es fehlte uns ganz und gar die Zeit zum Nachdenken. Ich hatte einen blutjungen Flakhelfer zur Seite, ein halbes Kind, ein überschmächtiges, zartgliedriges Bürschchen mit einem fein geschnittenen, blassen, leidenden Gesicht. Er schuftete wie ein Mann. In einem arg zerwühlten Garten stießen wir plötzlich auf einen kleinen, wohl vom Luftdruck entwurzelten Apfelbaum — und sahen einander an. Es war zum Erbarmen, wie das unschuldige Bäumchen uns Menschen um Hilfe anschrie. Wir verständigten uns mit ein paar Blicken. Ein richtiges Werkzeug hatten wir gerade nicht zur Hand. Doch der Bub wußte sich zu helfen. Er riß von dem Ueberrest eines Zaunes rasch zwei Latten los, und mit diesen stocherten wir in aller Eile an einem geeigneten Plätzchen eine Grube aus und setzten den Baum wieder ein. Und ebenda war es uns, als fiele uns damit alle bisherige Zentnerlast von unseren Herzen. Der Knabe lächelte. Ich auch. Wir waren auf eine wunderbare Weise getröstet und beruhigt. Er sah mich an. Ich sah ihn an. Für eine kurze Weile drückte ich das Bürschchen fest an mich. Das genügte. Worte waren rar in jenen Tagen.“

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