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Olav Hartman gehört heute zu den bedeutendsten schwedischen religiösen Dichtern. Er ist 1906 in Stockholm geboren, wo sein Vater Kaufmann war. Als der Knabe fünf Jahre alt war, erlebte der Vater eine entscheidende Wendung: er verkaufte alles, was er besaß, und wurde Offizier in der Heilsarmee. Der Sohn wollte als Gymnasiast dem väterlichen Vorbild folgen, kehrte aber nach anderthalb Jahren zu seinen Studien zurück und wählte den Pfarrerberuf. Seine schriftstellerischen Neigungen galten anfangs der Theologie, drängten dann jedoch unaufhaltsam zur Dichtung. Im Roman und im Essay fand er seine Ausdrucksformen. Außer der „Gnadenfrist“ erschienen in Deutschland bisher der aufwühlende psychologische Roman „Heilige Maskerade“, der Predigtband „Die Nacht leuchtet wie der Tag" und drei Essays „Kunst und Christentum“. Seit 1948 ist Olav Hartman Rektor des Sigtuna- Stiftes, der ersten Evangelischen Akademie in Europa. „Er kennt die Welt“, schreibt ein schwedischer Kritiker von ihm, „sein Temperament und seine Sprache gestatten ihm, die Menschen nach allen Richtungen hin zu schockieren. Ja, er ist zweifellos ausgesajrdt zu den Heiden und zu denen, die in der Kirche eingeschlafen sind.“

Das folgende Kapitel ist dem Roman „Die Gnadenfrist“ entnommen, die Geschichte eines alten schwedischen evangelischen Propstes, der vor seinem Sterben lange krank ist, wodurch er endlich Gelegenheit bekommt, über sein langes Leben nachzudenken und sich mit seinen Kindern auseinanderzusetzen. Eines dieser Kinder ist Magda, die mit einem sozialistischen Redakteur verheiratet ist. Verlag Wittig, Hamburg.

Eines Abends saßen Johan, Magda und der Propst zusammen und unterhielten sich. Sie hatten sich ins Musikzimmer zurückgezogen, wo sich der Propst halbwegs als Hausherr fühlte. Das Gespräch drehte sich um Hitler- Deutschland, und der Propst erzählte von einem Bischof, der den Nazis die Wahrheit gesagt hatte, und von seinen Anhängern, die Tag und Nacht vor seiner Wohnung Wache hielten, damit die Gestapo den Bischof nicht fortschleppen konnte. So stark war die Volksmeinung in dieser katholischen Provinz gewesen.

„So“, sagte Johan, „der Bischof hat den Nazis die Wahrheit gesagt? Wer hat denn dem Bischof die Wahrheit gesagt?“

Magda hörte nicht auf den Wortwechsel. Sie war todmüde. Das Arbeitsamt hatte ihr heute wieder einmal den Bescheid gegeben, daß keine Hausgehilfin zu haben sei. Und selbst wenn eine solche Seltenheit auftauchen sollte — würden sie sie jemals bezahlen können? Johan nahm es als selbstverständlich an, daß man ihr 200 Kronen im Monat bieten müßte. Wie sollte das werden? Sie konnten doch nicht immer mehr Schulden machen?

Bei der Gelegenheit fiel ihr ein, daß es für das Mädchen Zeit sei, zu Bett zu gehen. Sie unterbrach das Gespräch der beiden, das inzwischen bei den Gerichtsverhandlungen der Alliierten in Nürnberg gelandet war, und fragte, ob jemand Elsa gesehen habe.

„Elsa?“ sagte Johan. „Sie lag vorhin schon im Bett und schlief.“

Jetzt erinnerte sich der Propst an etwas: „Denkt euch, heute sagte sie mir beiläufig, daß sie vielleicht ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen werde, aber es sei noch nicht ganz sicher. Was meinte sie damit wohl?“

„Kinder haben so viele Einfälle“, sagte Johan.

Doch der Propst beharrte dabei, irgendwoher müsse sie diesen Einfall doch haben, und zu Johans unsagbarem Aerger war Magda eben so aufrichtig wie immer.

„Ja, es ist schon so, wie Elsa sagte. Aber der Doktor meint, daß ich das Kind nicht austragen könne. Ich glaube fast, er hat recht.“

Jetzt hätte der Propst Magda ansehen und lesen müssen, was in ihren Augen geschrieben stand: daß sie dicht an der Grenze dessen war, was ein Mensch ertragen konnte. Doch das Wort „recht“ rief bei dem alten Theologen andere Ideenverbindungen hervor: diese Acrzte, ob die wohl recht haben mit ihren ... ? Er beugte sich zu Magda hinüber und fragte in teilnehmendem Ton:

„Bedeutet dies, daß der Arzt das Kind töten will?“

Die letzten Worte durchfuhren Magda wie ein Messerstich. Sie sah den Propst entsetzt an. „Ich ... ich möchte es nicht so ausdrücken“, sagte sie, „aber ...“

Sie konnte nicht weiterreden. Der Propst merkte nicht, daß sie erregt war. Ihn fesselte das ethische Problem als solches.

„Du hast ja schon fünf Kinde zur Welt gebracht“, sagte der Propst, „und es ist immer gut gegangen. Wie kann der Arzt so sicher wissen, daß es dieses Mal schiefgeht? Ist etwas Besonderes geschehen?“

„Es muß doch genügen, daß ihre Kräfte verbraucht sind“, sagte Johan.

„Hm“, erwiderte der Propst. „Es kommt wohl darauf an. Bisweilen berechnet man die Gefahr nach Prozenten. Hat der Arzt darüber etwas gesagt?“

„Der Arzt sagt, daß man es nicht ganz bestimmt voraussagen könne. Er gab mir nur nach bestem Wissen einen Rat und er wird es wohl gewohnt sein, zu beurteilen, was man aushalten und was man nicht aushalten kann. Obwohl ich mir wünschte, daß er sich irrt.“

Der Propst überlegte. Niemand sagte etwas. Schließlich konnte er nicht länger schweigen, sondern mußte seine Gedanken äußern. Seine Worte wirkten halb wie ein Debattenein- wand, halb wie eine Meditation.

„Daß die Kräfte nur gering sind, ist nicht entscheidend. Sie können durch Ruhe und geeignete Arzneien gesteigert werden. Man nimmt einem anderen Menschen nicht das Leben“ ...

Hier unterbrach Johan den Alten. Er war jetzt in eine ziemliche Wut geraten. Nicht daß er in seiner sozialpolitischen Anschauung, wenn er überhaupt eine hatte, dogmatisch gewesen wäre — aber diese theologische Sozialethik war ihm ein Brechmittel.

„Mag sein, daß keine Lebensgefahr für Magda bestände“, sagte er, „wenn sie hier aus allem herauskäme, uns also unseren Dienstboten überließe und auch dieses Jahr an die Riviera führe, ganz wie immer. Ich begreife gar nicht, warum sie nicht verreist!“

Der Propst spürte die Ironie und machte sich zum Angriff bereit: „Ich verstehe“, sagte er. „Sogenannte soziale Indikation. Der nächste Schritt ist, daß man uns Alten umbringt, wenn wir arbeitsunfähig sind und unsere Verwandten uns nicht versorgen können. Die Euthanasie ist ja schon erprobt. Das war der Hauptpunkt der Anklage, als der Bischof sich im Namen der Kirche gegen die Nazis wandte.“

„In einem Schönen Namen!“ sagte Johan. „Die Kirche, ein Freund der Armen! Die Kirche, die sich in der schlimmsten Notzeit der Arbeiter dafür einsetzte, daß sie einen um den anderen Sonntag frei haben sollten, um in den Gottesdienst gehen zu können! Die Kirche löst das Problem der überarbeiteten Mütter: Mit Schmerzen sollst du deine Kinder gebären, und hast du nicht Schwindsucht oder Krebs, mußt du dich auf die Vorsehung verlassen, die dich auf grüne Wiesen führen und dir eine Erholung im Touristenhotel erster Klasse in den Bergen verschaffen wird! Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden!“

Johan mußte sich über sich selber wundern. Wäre morgen der 1. Mai gewesen, würde er ohne seine sonstige Skepsis mit dem Zuge gewandert sein. Einmal hatte er an diesem Tage eine Rede auf dem Markt gehalten — damals war man gerade am Ueber- legcn, ob man ihn zum Landtagsabgeordneten machen sollte, aber daraus wurde nichts, denn seine Rede wirkte nicht allzu überzeugend.

Jetzt ging der Propst zum Gegenangriff über. Es schien ihm sein gutes Recht zu sein, gehörig loszulegen.

„Die Kirche hat diese Probleme schon viele hundert Jahre durchdacht, ehe es einen Sozialismus gab“, sagte er. „Es war einmal ein Bischof, der ein paar Studenten durchfallen ließ, die zu eifrig darnach drängten, als Lehrer der Gemeinde aufzutreten, und er tat es mit dem Wort aus der Heiligen Schrift, das also lautet: ,Bleibt zu Jericho, bis euer Bart gewachsen, so kommt dann wieder. Ich glaube, daß die Kirche alt genug ist, um vielen modernen Schwätzern solch eine Lehre zu erteilen.“

„Die Kirche hat auch ein Herz für die Mütter“, fuhr er fort, „aber sie setzt di Kinder deswegen nicht im Walde aus, denn es steht geschrieben: Du sollst nicht töten. Will man die Mütter schonen, so gibt es ein ausgezeichnetes Mittel, das heißt Enthaltsamkeit. Es schadet keinem, sein Fleisch in Zucht zu halten und zu kasteien. Dieser Ausweg ist nützlicher und humaner, als das Kind im Mutterleibe zu töten.“

Johan konnte nicht noch aufgebrachter werden, als er schon war. „Das klingt ja sehr liebevoll“, sagte er, „verdamme mich Gott, wenn ich je etwas so Feinfühliges gehört habe. Es gibt also keine Fälle, wo ...“

Aber jetzt hatte Magda genug. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen schwarz wie Büchsenmündungen. Sie ballte die Hände über der Stuhllehne und sah in ihrem Zorn und ihrer Schönheit wie die Kriegsgöttin selber aus.

„Ich möchte darum bitten, kein Fall z sein“, sagte sie, „ich und das Kind. Macht uns nur nicht zum Anhängsel einer Predigt oder zum Gegenstand eines Paragraphen! Es ist mein Kind! Wenn es ein Junge ist, steht es außerhalb eurer Debatte — und wenn es ein Mädchen ist, erst recht.“

Der Propst war überrascht und verwirrt. Wer kann sich bei Frauen auskennen?

„Auch mein erstes Kind war zunächst einmal ein Mensch“, fuhr Magda fort. „Jetzt ist er Student und kann Probleme erörtern, falls euch das bei seiner Bewertung hilft, doch ist’s immer noch der gleiche Mensch wie damals. Ob wohl einer von euch schon jemals entdeckt hat, daß unsere sechs Kinder etwas sind, was sich zum wenigsten lohnt, kennenzulernen? Vielleicht ist es ja schon zuviel verlangt, hier Liebe zu erwarten, wie sonst, wenn es sich um persönliche Gemeinschaft handelt. Denkt nur, wenn wir hier nun säßen und erörterten, ob es moralisch oder sozialpolitisch recht ist, Sven das Leben zu nehmen, oder mir, oder irgendeinem von euch! Kalt und sachlich. O diese Sachlichkeit!“

Einige Augenblicke war es still, während Magda sich verschnaufte. Johan zog an seiner Pfeife und betrachtete ihre roten Wangen. Er war im Begriff, die ganze Debatte zu vergessen, in die er sich vorhin mit so großem Eifer gestürzt hatte. Was für eine Frau! Was für eine Frau!

„So, jetzt gehe ich zu Bett“, sagte sie, „ihr versteht doch nicht, wie ich es meine, denn ihr habt nie ein Kind erwartet. Gute Nacht, ihr Männer!“

„Ich komme mit“, sagte Johan.

Sie ging aus dem Zimmer, Johan klopfte seine Pfeife aus und folgte ihr.

Der Propst blieb allein zurück und überlegte. Dieses konnte er nicht begreifen. Soweit er verstand, hatte er doch die gleiche Ansicht wie Magda vertreten. Sie wünschte, daß der Arzt seinen Willen nicht durchsetzen sollte, und er hatte ihr bewiesen, daß ihre Ansichten mit den höchsten moralischen Grundsätzen übereinstimmten. Auch das mit der Enthaltsamkeit war doch schließlich etwas, wofür eine Frau dankbar sein mußte, ‘wenn es auch Johan nicht behagte. Und doch war sie so wütend auf ihn geworden. Er schüttelte den Kopf. Es war wohl jetzt das beste, die Komplet zu lesen. Sonst konnte er nur hoffen, daß es ihm wenigstens gelungen war, die beiden etwas zum Nachdenken zu bringen.

Das war in der Tat geschehen. Johan lag in seinem Bett und überlegte sich, wie es war, sich als überzeugter Sozialdemokrat zu fühlen, wie er es heute abend getan hatte. In Gedanken setzte er die Debatte mit dem Alten fort. Er stand an einem Rednerpult in einer wogenden Menschenmenge. Einige finden, sagte er, daß der Mensch ein moralisches Problem ist. Seine Lage hängt davon ab, wie er sich zu den hohen ethischen Forderungen verhält. Wir Sozialdemokraten — hier begann die Menge seltsamerweise zu applaudieren — sind gewiß die ersten, die den höchsten moralischen Grundsätzen huldigen, aber wir finden,. daß man auch nicht vergessen darf, daß der Mensch ein Heim und eine Gemeinschaft braucht. Keine Mutter bringt moralische Grundsätze zur Welt, sie gebiert einen Menschen, der sogleich ihrer Fürsorge bedarf. Wir Sozialdemokraten sehen den Menschen auch als soziales Problem. Es ist wenig moralisch, ihm Moralpauken statt Essen zu geben. Es ist eine Verunglimpfung der Menschenwürde, im Menschen nur ein Bekehrungsobjekt zu sehen, seinen Rucksack mjt einer Reihe von Geboten vollzupacken, aber nicht darnach zu fragen, ob er lebt oder stirbt- Wenn er nur nach den zehn Geboten lebt oder stirbt ... und so mönchisch wie nur möglich. Arbeite, bete und entbehre ...

Wahrhaftig, es war nahe daran, daß der Propst ihn in dieser Nacht in einen glühenden Sozialisten umgewandelt hätte. Gewiß war Johan Sozialist, aber ... Seine Rede gelangte bald an einen Punkt, wo eine Persönlichkeitsspaltung zwischen dem Mann am Rednerpult und dem Mann im Bett stattfand, und zwar geschah das, als der Redner zuletzt die Hand ausstreckte und sagte: Gebt daher eure Stimmen den Sozialdemokraten! Das war an sich ein durchaus natürlicher Appell, aber als Johan ihn so aus seinem eigenen Mund hörte, mit all dem Pathos, das man von einem Parteiredner erwarten konnte, verzog er den Mund und drehte sich um. Für einen Augenblick lauschte er Magdas Atemzügen. Sie schlief sicher. Oh, wie schön sie in ihrem Zorn gewesen war! Dann schlief Johan ein.

Doch Magda schlief nicht. Ihr Körper war fast betäubt von Müdigkeit, sie konnte keinerlei Gedanken mehr aneinanderreihen. Irgendwie schloß sie sich um das kleine Leben zusammen, das sie in sich trug. An wen sollte sie sich wenden? Sie waren beide in einer kalten, feindlichen Welt aufeinander angewiesen. Mit ihrer ganzen Persönlichkeit wollte sie die Lebensflamme, die in ihrem Schoße brannte, umhegen, wie man im Winde die Hand um eine Kerze hält. Verzweifelt spürte sie ihre Kraftlosigkeit. Es schwelte ein Aufruhr in ihr gegen alles, was Männer von ihr und dem Kinde seit Anbeginn der Zeiten gesagt hatten, ein Aufruhr des Lebens gegen alle klaren, logischen Gründe, die wie Maschinen rasselten. Morgen oder übermorgen würde sie vielleicht die Waffen strecken, ihr Kampf schien vom Anfang an hoffnungslos, aber wie sollte sie ihren kleinen Gefährten aufgeben und den Stern auslöschen lassen, der in ihrem Körper zu strahlen begann? Wip sollte sie das können? Wie sollte sie das können? Niemals, das wußte sie, würde sie es tun.

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