6586007-1951_47_06.jpg
Digital In Arbeit

Das Kind

Werbung
Werbung
Werbung

Als ich jung und noch nicht verheiratet war, unterhielt ich mich oft damit, in der Zeitung die tägliche Chronik zu lesen, wo alle die Unglücksfälle erzählt werden, die den Leuten widerfahren, wie Diebstähle, Morde, Selbstmorde, Verkehrsunfälle. Und unter allen diesen Unglücksfällen war der einzige, von dem es mir wirklich unmöglich schien, daß er mir widerfahren könnte, der, daß ich das würde, was die Zeitung einen „erbarmungswürdigen Fall“ nannte; das heißt, eine Person, die so unglücklich ist, daß 6ie das Mitleid erweckt ohne einen besonderen Unglücksfall, nur so, durch ihre bloße Existenz. Ich war, wie gesagt, jung und wußte noch nicht, was es heißt, eine zahlreiche Familie zu erhalten. Aber heute sehe ich mit Entsetzen, daß ich mich Schritt für Schritt gerade in einen „erbarmungswürdigen Fall“ verwandelt habe. Ich las zum Beispiel: „Sie leben im tiefsten Elend.“ Nun, heute lebe ich im tiefsten Elend. Oder: „Sie leben in einer Wohnung, die diesen Namen kaum verdient.“ Nun, ich lebe in Tormarancio, mit meiner Frau und sechs Kindern, in einem Zimmer, dessen Boden ganz mit Matratzen gefüllt ist und in das es hineinregnet. Oder weiter: „Als die Unglückliche merkte, daß sie ein Kind erwarte, faßte sie einen verbrecherischen Entschluß.“ Nun, diesen Entschluß faßten wir gemeinsam, meine Frau und ich, als wir entdeckten, daß sie zum siebentenmal schwanger war. Wir beschlossen, kurz gesagt, sobald es die Jahreszeit erlaube, das Geschöpf in einer Kirche auszusetzen und es der Barmherzigkeit des ersten besten anzuvertrauen, der es finden würde.

Meine Frau hatte im Spital entbunden und ist, kaum daß sie sich dazu imstande fühlte, mit dem Kind nach Tormarancio zurückgekommen. Dann im April, als es schon so warm war, daß man es ohne Uberrock im Freien aushielt, sind wir nach Rom gefahren. Sobald wir in der Stadt waren, fing meine Frau, um nicht zu zeigen, daß ihr Kind ihr leid getan hat, ununterbrochen zu reden an, Sie sprach von den verschiedenen Kirchen, in denen wir es lassen könnten, und erklärte mir, daß es eine Kirche sein müsse, in die reiche

Leute kommen, denn, wenn das Kind von jemand aufgelesen würde, der so arm ist wie wir, hätten wir es gleich selbst behalten können. So nahmen wir den Autobus und stiegen am Largo Goldini aus. Meine Frau fing sofort wieder mit ihrem Gerede an. Vor der Auslage eines Juweliers blieb sie stehen und zeigte die auf roten Samtunterlagen ausgestellten Schmuckstücke: „Schau, wie schön... in diese Straße kommen die Leute nur, um Schmuck und andere schöne Sachen zu kaufen. Zwischen dem einen und dem anderen Geschäft gehen sie in die Kirche, um einen Augenblick zu beten... sie sind gut gestimmt... sie sehen das Kind und nehmen es.“ Wir gingen darauf in die nächste Kirche. Sie war klein, ganz mit gelber Marmorimitation ausgemalt, mit sechs kleinen Kapellen und dem Hauptaltar. Meine Frau ist, das Kind im Arm, langsam in der Kirche herumgegangen und hat sie mit einer unzufriedenen und mißtrauischen Miene geprüft. Auf einmal ist ein großes Fräulein in einem roten Kleid, mit Haaren blond wie Gold, hereingekommen. Mit ihrem engen Rock hatte sie etwas Mühe, sich niederzuknien, hat dann vielleicht nicht einmal eine Minute gebetet, sich bekreuzigt und ist, ohne uns anzusehen, wieder gegangen. Meine Frau, die die Szene verfolgt hatte, sagte plötzlich: „Nein, das geht nicht... hier kommen Leute her, wie dieses Fräulein, die es eilig haben, sich zu unterhalten und sich die Geschäfte anzuschauen ... gehen wir.“ Und mit diesen Worten hat sie die Kirche verlassen.

Wir sind dann, immer mit schnellem Schritt, den Corso ein gutes Stück hinaufgegangen, meine Frau voran und ich hinterher: und gegen Piazza Venezia zu sind wir in eine andere Kirche hinein. Die war viel größer als die erste, fast ganz dunkel. Es waren etliche Leute drinnen und so, auf den ersten Blick, hatte ich den Eindruck, daß es alle wohlhabende Leute wären. Ein Priester predigte von der Kanzel; alle standen zu ihm hingewandt; und ich dachte, daß dies gut sei, da uns niemand beobachten würde. Leise sagte; ich zu meiner Frau: „Versuchen wir's und lassen wir's hier?“ worauf sie zustimmend mit dem Kopf nickte. Wir sind in eine Seitenkapelle gegangen, wo es sehr finster und die ganz leer war. Meine Frau deckte das Gesicht des Kindes mit einem Zipfel der Decke, in die es eingewickelt war, zu und legte es dann auf einen Sessel, gerade wie man ein Paket hinlegt, um sich freier bewegen zu können. Dann kniete sie nieder und betete, dag Gesicht zwischen den Händen, lange. Endlich stand »le mit einem ernsten Gesicht auf, bekreuzigte sich, und ist langsam, von mir mit Abstand gefolgt, aus der Kapelle gegangen. Aber gerade, wie dann meine Frau dabei war, den schweren Türvorhang aufzuheben, ließ uns beide eine Stimme zusammenfahren: „Signora, Sie haben ein Paket auf dem Sessel liegen-la ssen.“ Es war eine schwarzgekleidete Frau, eine von jenen Betschwestern, die den Tag zwischen Kirche und Sakristei zubringen. „Ah, ja“, sagte meine Frau, „danke... ich habe es vergessen.“ Kurz, wir haben das Bündel wieder an uns genommen und die Kirche, mehr tot als lebendig, verlassen.

Draußen sagte dann meine Frau: „Niemand will ihn, meinen armen Buben“, ein bißchen wie ein Verkäufer, der mit einem schnellen Abverkauf gerechnet hat, und der jetzt niemanden findet, der ihm die Ware abnehmen will.

Ohne zu wissen, wohin wir wollten, sind wir schließlich die Via Nazionale hinaufgegangen, gegen den Neroturm zu. Kurz davor habe ich ein kleines, ansteigendes Gäßchen bemerkt, ganz verlassen, nur ein graues geschlossenes Auto vor einem Tor. Mir ist eine Eingebung gekommen, ich bin hingegangen, habe die Klinke zu drehen versucht, und die Tür ist aufgegangen. Ich habe zu meiner Frau gesagt: „Schnell, das ist der Augenblick ... leg es auf die rückwärtigen Sitze.“ Sie tat, wie ich sagte, dann habe ich die Wagentür wieder zugemacht. Alles das ging ganz schnell, ohne daß uns jemand gesehen hätte. Dann nahm ich meine Frau unter den Arm, und wir sind gegen die Piazza dei Quirinale zu gelaufen.

Der Platz war verlassen. Meine Frau ging zum Brunnen unter dem Obelisken, setzte sich auf eine Bank und fing auf einmal so vor sich hin zu weinen an. Ich sagte: „Was hast du denn Jetzt?“ Und sie: „Jetzt, wo ich es weggegeben habe, fehlt es mir...“ Ich sagte so leichthin: „Ja, natürlich... aber das wird vorübergehen.“ Sie hob die Schultern und hat weitergeweint. Dann, auf einmal, vertrockneten die Tränen wie der Regen auf der Straße, wenn der Wind bläst. Wütend stand sie auf, zeigte auf einen der Paläste und sagte: „Jetzt gehe ich dorthin, laß mich vom König empfangen und sag' ihm alles. „Halt!“ rief ich und packte sie beim Ärmel. „Bist du verrückt ... oder weißt du nicht, daß der König nicht mehr da ist?“ Und sie: „Das macht mir gar nichts ... ich werde mit dem reden, der seinen Platz jetzt einnimmt ... irgendwer wird schon dort sein.“ Kurz, sie ist gegen das Tor zu gelaufen und wer weiß, was für einen Skandal sie dort gemacht hätte, wenn ich nicht plötzlich, verzweifelt gesagt hätte: „Hör' einmal, ich hab' mir's überlegt... gehen wir zu dem Auto zurück und holen wir das Kind wieder... ja, behalten wir's... schließlich, nicht wahr, eins mehr, eins weniger.“ „Aber wird es noch dort sein?“ meinte sie und ist gleich auf das Gäßchen zugelaufen, wo das graue Auto war. „Aber natürlich“, antwortete ich, „es 6ind doch noch keine fünf Minuten vergangen.“

Das Auto war wirklich da. Aber gerade in dem Augenblick, wo meine Frau die Tür aufmachen wollte, Ist ein Mann mittleren Alters aus einem Tor herausgekommen: „Halt, halt... was wollt ihr in meinem Wagen?“ „Ich will meine Sache nehmen“, sagte meine Frau, ohne sich umzudrehen, und bückte sich, um das Bündel zu nehmen. Aber der andere ließ nicht locker. „Was nehmen Sie?... Das ist mein Wagen ... haben Sie verstanden ... mein Wagen.“ Da hättet ihr meine Frau sehen sollen! Sie richtete sich auf und fuhr ihn an: „Aber wer nimmt dir schon etwas? ... Keine Angst: niemand nimmt dir was ... auf dein Auto spuck ich drauf... schau“, und sie spuckte richtig auf die Wagentür. „Aber dieses Paket...?“ frug er ganz verdutzt wieder. Und sie: „Das ist kein Paket., 4 das ist mein Sohn ... schaul“

Sie deckte dem Kind das Gesicht auf, zeigte es ihm und schrie weiter: „Ein so schönes Kindl Versuch es ja nicht, mich anzurühren, sonst schrei ich und ruf die Wache und sag', daß du mir meinen Sohn hast wegnehmen wollen.“ Kurz, sie sagte ihm alles Mögliche, so daß der Arme ganz rot im Gesicht und mit offenem Mund dastand und ihn fast der Schlag getroffen hätte. Schließlich ist sie, ohne sich zu beeilen, weggegangen und winkte mir nur, ihr zu folgen.

Aus dem Italienischen von Lina Fetsia.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung