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Zeichen an der Wand

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Ueber dem Kontinent ist die Wohlfahrt eingebrochen. Ihrer Last, der „Reihe von süßen Tagen” schier ohne Ende, sind viele nicht gewachsen, nicht körperlich (mit ihrem Magen) und schon gar nicht seelisch und charakterlich. Tanzneurosen und Alkoholexzesse, die Verkehrung der natürlichen Ordnung in der Bedürfnisbefriedigung und die Bindung großer Teile künftigen Einkommens durch den Ratenkredit sind Ausweise einer Konsumhysterie. Ein großer Teil der Menschen droht jedes Maß im Genießen zu verlieren, das ebenso gekonnt und rationell bedacht werden muß wie der Vollzug der Arbeit im Erwerbsprozeß. So kommt es zur massenweisen Vergeudung und zur Uebersättigung. Nicht wenige und gerade jene, deren Konsum Attraktion und Vor-Bild für das „gemeine” Volk ist, sind an einem Plafond ihrer Genußfähigkeit angelangt; ihre Genußkraft ist erschöpft. So mancher hat — gerade weil ihm mehr Kauf kraft verfügbar ist als er verwerten kann — nicht mehr die Genuß kraft,, sich des Gebotenen zu freuen. Die Folge ist eine permanente und kaum durch Exzesse zu unterbrechende Langeweile und der Abfall in die Blasiertheit, in den Prestigesnobismus als der Darstellungsform der Entartung derer, die laut und vernehmlich für sich das Privileg in Anspruch nehmen, die „Gesellschaft” zu repräsentieren. Auf der anderen Seite, im Vorfeld der Gesellschaft, zeigt sich der massenweise Abfall in eine neue Primitivität und Vermischung und die Bildung von Horden, die, vom Ge- sellungstrieb zusammengehalten, beim Konsum nur noch in der kurzen Frist denken.

In die Welt der massenweise geübten Konsumkulte sind nun die Ereignisse des 4. und 5. November 1956 eingebröchen. Moderne Märchenerzähler schilderten uns in ihren Gazetten, wie in der „dramatischesten Nacht der Weltgeschichte” bereits die USA- Bomber aufgestiegen waren, voll der „bitteren” Last atomarer Waffen, und wie auf der anderen Seite nicht minder frohgemut die Raketenkanonen im Osten geradewegs auf Paris und London gerichtet waren. In eben jener Nacht, da an Oesterreichs barmherziger Grenze Tausende Rettung suchten. Nicht, weil sie unmitteL bar gefährdet waren. Nur ein Bruchteil der Menschen, die um Asyl in Oesterreich ansuchten, war unmittelbar persönlich’ bedroht. Aber’es war ein Ausbruch der Angst oder auch des Zornes (wie Georges M-ikes im englischen Rundfunk sagte, „an outburst of anger”), der’ die Menschen auf die Barrikaden und dann auf die Flucht zwang, das nackte, oft sachlich nicht zu begründende Entsetzen, welches die Menschen vom Herd, von der Maschine und von der Schulbank weg auf die Straßen hach Oesterreich wies.

Um die Entwicklung zu dramatisieren, gibt Ministerpräsident Eden den Marschbefehl an seine Soldaten. Nicht Ungarn, das bereits (wie ehedem Oesterreich 1918) für die große Welt auf dem Erinnerungsschilling steht, sondern Suez, die Schließung des Kanals’und seine Beschädigung störte die Dispositionen der Internationale der Money-mäker.

Und wir sahen erstmalig, daß Wir nun in der „Einen Welt” zu leben beginnen, daß die Gefährdung des einen unmittelbar Gefährdung des anderen zu werden beginnt und daß Gewinn, Realeinkommen und auch die kleinen Dinge des Tages, die das Leben erst lebenswert machen, keineswegs ein für alle Zeiten Gesichertes sind. An ihre Stelle können Flucht, Lagerleben und eine Rückkehr in die Hölle und in die Höhlen der Bombennächte treten.

So entstand die Internationale der Angst:

Millionen sahen zum Rundfunkgerät an der Wand, das seine Zeichen gab, die eine unheilvolle Entwicklung ahnen ließen.

Nicht wenige hatten das, was kam und in Ungarn geradezu kommen mußte, herbeigesehnt oder den Fortgang einer Entideologisierung des Kommunismus, die kaum vermeidbar ist, vorhergesehen. Wie immer man aber die Dinge sehen und wo immer man stehen mag: Niemand, nicht hüben und drüben, wollte den Krieg. Die einen nicht, weil sie, bereits arriviert, für sich die soziale Frage gelöst haben, und die anderen nicht, weil sie, entgegen etwa 1914, dessen gewiß sind, daß Kriege heute wahrlich kein Geschäft sind, es sei denn für eine Unterwelt oder für Abbruchsunternehmungen. Der totale Krieg, den Forscher und gewiegte Manager in ihren Labors und Produktionsplänen vorbereiten, läßt eben keinen toten Winkel der Sicherheit ausgespart, auch nicht für die, welche daheim „die Waffen schmieden” oder bei geschwellter treuvaterländischer Brust die Kriegsgesänge konzipieren. Wie sehr die Finanzwelt diesen LImstand bedachte, zeigte sich an der New-Yorker Börse: Die Kurse und damit die Gewinsthoffnungen fielen dort an einem Tag bei Aktien um nicht weniger als zwei Milliarden Dollar. Das „Kapital” wollte eben diesmal mit den westlichen Kombattanten nichts oder wenig zu tun haben und zog sich, wie man das so schön formuliert, zurück. Das Liefern von Kanonen erweist sich eben nur dann noch als ein Geschäft, wenn diese perfekten Mechanismen zur Bereinigung eines Bevölkerungsüberdrucks, die aus dem Aggressionstrieb, wenn nicht kannibalischen Gelüsten geboren sind,, verwendungswidrig zur Bereicherung des Inventars heeresgeschichtlicher Museen verwendet werden.

Jetzt aber, seit dem 4. Nove mb er, sind an die zwei Monate vergangen. Seit Budapest und Suez. Noch zeugen in beiden Städten Häuserskelette vom Vorhandensein eines Kolonialismus,” der’ sich nur ‘noch- durch die’Gewalt zu rechtfertigen weiß: Immer , noch suchen Flüchtlinge die Grenze zu er reichen, die für sie das Tor’ zu einem Goldeneri Westen darstellt, und die’Chąnce, ein Leben zu führen, das dem unseren, wie wir es seit Jahren’ führen dürfen, angenähert ist.’

Da und dort, wissen1 die Tageszeitungen auch- von Restsensationen, die ihnen’ Spezialsuper - uiid Sonderreporter berichten, wenh nicht Moritaten, der Kostenreduktion wegen, gleich durch kluge Kombination — in der Redaktion konstruiert Werden.

Aber jeder Tag, der die Ereignisse des schwarzen Sonntags, des 4. November, überdeckt, macht uns mehr vergessen, wie sehr wir, zumindest für einige Zeit, uns dessen freuen sollten, daß das, was ist, bleibt. Wir leiden an einer geradezu krankhaften Entwertung der Gegenwart. Das Gewesene wird in falscher Klassifikation glorifiziert oder es. wird das Kommende, etwa die Heraufkunft einer ausbeutungslosen und leidlosen Ordnung, als das einzig Wirkliche und Notwendige vor die Gegenwart gestellt. Permanente und liebevoll gepflegte Unzufriedenheit mit dem, was ist, muß die unvermeidliche Folge sein.

Schon fallen die Menschen des Westens wieder in die Pflege der alten Baalskulte zurück. Wie im Märchen vom Dornröschen nehmen die Attraktionen des Rummelplatzes nach kurzer Achtungspause ihren Fortgang. Wo Wohltat noch am Platze ist, wird sie. mit dem Geschäft ausgewogen. Wir nehmen neuerlich Notiz von dem Gehaben der Großen des Films, deren konserviertes Zahnpaste-Einheitslächeln einige Zeit von den Titelseiten der so ungemein abwechslungsreichen Massenillustrierten verschwunden war. Die Feiertage des Christfestes und des Jahreswechsels haben schon wieder den Rang gewichtiger Posten im Kalkül der Freizeitindustrie.

Menetekel … Wer je an das „Ende der Menschheit” geglaubt, wird höhnisch und überlegen verlacht und muß sich noch geehrt fühlen, wenn er als wissenschaftlicher Utopist eingestuft wird. Daß auch heute noch das Ende unserer Welt im Stundenterminkalender einiger Großer als Everituallösung aller, tatsächlich aller Probleme eingetragen ist, wird vehement geleugnet. Was nicht sein soll, ist eben nicht.

Im Jahre 1957 wird die Fortschrittsrate weiter steigen. Auch die Unzufriedenheit und das Gefühl, nicht richtig entnivelliert oder nivelliert, nicht richtig nach gezogen oder a n gezogen zu sein, wird ansteigen. Mehr noch als die Fortschrittsrate. In einer • Flugschrift können wir lesen, daß.- Standesbeamte dafür sind, daß man ihre Bezüge vom Jänner 1957 um das 3,3fache weiter erhöht. Die Autosalons machen weiter ihr Geschäft und die Koffer, die nur das „Allernotwendigste” enthielten, um das „Ende aller Zeiten” zu überstehen, werden entleert. Die Strapazschuhe, kaum gekauft, werden, weil es doch nicht zürn großen Treck gekommen ist, einem gutgläubigen, aber armen Verwandten übereignet.

Alles war nur eine Episode, die man durch Alkohol und Nächholkonsum schnell zu vergessen sucht. Schon macht man Budapestwitze und ein Dichter ist daran, das Grauen von Ungarn über Tantiemen zu kommerzialisieren.

Wie viele haben also die Zeichen an der Wand verstanden?

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