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Der Krieg vor der Haustür geht weiter

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Wie der amerikanische General Westmoreland, der in Vietnam Jahr für Jahr „das Licht am Ende des Tunnels“ zu sehen glaubte, bis es im Tunnel endgültig finster wurde, so meinen heute viele britische Offiziere in Nordirland, nur einen kleinen Schritt von einem vollen Erfolg (sprich: Ruhe im Land) entfernt zu sein, wenn man sie nur gewähren ließe. Dieser kleine Schritt könnte jedoch gleichbedeutend sein mit dem Schritt von den „Methoden einer Polizeitruppe in Friedenszeiten“ (Reginald Paget) zu radikaleren Mitteln.

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Wie der amerikanische General Westmoreland, der in Vietnam Jahr für Jahr „das Licht am Ende des Tunnels“ zu sehen glaubte, bis es im Tunnel endgültig finster wurde, so meinen heute viele britische Offiziere in Nordirland, nur einen kleinen Schritt von einem vollen Erfolg (sprich: Ruhe im Land) entfernt zu sein, wenn man sie nur gewähren ließe. Dieser kleine Schritt könnte jedoch gleichbedeutend sein mit dem Schritt von den „Methoden einer Polizeitruppe in Friedenszeiten“ (Reginald Paget) zu radikaleren Mitteln.

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Wie diese radikalen Mittel aussehen könnten, läßt etwa die Äußerung von Reginald Thomas Paget ahnen, der meinte, man hätte durch die Exekution eines IRA-Führers nach jedem Terrorakt Hunderte von Unschuldigen, die durch Bombenanschläge ums Leben kamen, retten können. Selbst wenn sich Paget mit solchen Vorschlägen nicht identifizierte, so zeigt seine Äußerung doch, zu welcher Erosion rechtsstaatlichen Denkens das nardirische Chaos bereits in England selbst geführt hat.

Denn Paget äst nicht irgendeiner, sondern er gilt zwar einerseits als Eigenwilliger und Einzelgänger tonerhalb der Labour Party, gehört aber anderseits dem Unterhaus seit fast dreißig Jahren an, er ist Vorkämpfer der EWG innerhalb der Labour Party, vor allem aber ein brillanter Jurist und Strafverteidiger, der seinerzeit vehement für die Abschaffung der Todesstrafe eintrat und ein Buch über die unschuldig Hingerichteten schrieb („Hanged and innocent“).

Auch wenn es viele Inner- wie außerhalb Großbritanniens nicht wahrhaben mögen: Die Tatsache, daß 15.000 Soldaten nicht in der Lage sind, Leben und Eigentum der Bürger Nordirlands zu schützen, muß früher oder später Großbritanniens Rechts- wie politisches System in Mitleidenschaft ziehen. Das Rechtssystem einerseits durch partielle Außerkraftsetzung der Bürgerrechte (Anhaltelager für IRA- oder UDA-Verdächtige), durch die immer lauter werdenden Forderungen aus Offizierskreisen, sie von legalisti-schen Fesseln zu befreien, die ein „härteres Durchgreifen“ unmöglich machen, anderseits aber auch durch eine gewisse Abstumpfung gegen Übergriffe der Exekutive. Die drei Gefängnisjahre für einen Korporal, der während eines Feuerüberfalles einen 12jährigen Buben erschossen hatte, machten nicht nur in der Army böses Blut, sondern erschienen auch einem großen Teil der englischen Öffentlichkeit ungerecht; anderseits wurde nach dem „blutigen Sonntag“ von Londonderry, wo britische Fallschirmtruppen ein Blutbad veranstaltet hatten, zwar eine Untersuchungskoimmisaion eingesetzt, aber nicht einmal ein Disziplinarverfahren eröffnet.

Daß, wenn schon nicht Großbritanniens politisches System, dann zumindest das Vertrauen in dieses System ebenfalls gelitten hat, wurde spätestens vor wenigen Monaten angesichts der Bemerkungen im Unterhaus über eine mögliche Machtergreifung der Armee deutlich. Anläßlich der zunehmenden Polarisierung der politischen Kräfte in der Endphase der Regierung Heath wurden so die Folgen einer jahrelangen politischen Schizophrenie sichtbar, die darin besteht, daß die britische Regierung in einem Gebiet, das aus britischer Sicht — und aus der Sicht der nordirischen Bevöikerungsmehrheit — so unverbrüchlich zum United Kingdom gehört wie Schottland oder Wales, nur mittels einer allgegenwärtigen Militärmacht den Ausbruch eines blutigen Chaos verhindern kann. Notabene mittels einer Militärmacht, deren Vertreter im Interesse ihrer eigenen Sicherheit sich auf belebten nachmittäglichen Großstadtstraßen nur noch gefechtsmäßig bewegen. Es sprechen viele Anzeichen dafür, daß bei den in Nord-iriand stationierten britischen Soldaten dumpfe Resignation und das Gefühl, mit entsprechend harten Mitteln sofort Herr der Lage sein zu können, dicht nebeneinander sitzen.

Eine solche Verfassung kann, der Vorbilder gibt es genug, eine Armee dazu prädestinieren, „die Dinge selbst in die Hand zu nehmen“. Englands Demokratie ist zweifellos widerstandsfähiger als irgendeine andere. Aber ihre Rolle als Nordirlands einzige (und obendrein mäßig erfolgreiche) Ordnungsmacht ist dem demokratischen Bewußtsein der Army zweifellos nicht zuträglich — zudem fördert der Charakter einer Berufsarmee, für die man sich ebenso entscheidet wie für den Beruf eines Polizisten, etwaige zum „Staat im Staat“ hinführende Tendenzen. Nordirlands Gefährlichkeit als Herd möglicher antidemokratischer Infektionen sollte nicht unterschätzt werden.

Doch ein Rezept, wie dieser Infektionsherd saniert werden könnte, hat gegenwärtig niemand anzubieten und kein deus ex machina ist in Sicht. Die nordirische Situation hat gewisse Parallelen zur nahöstlichen: Ebenso wie die militanten Palästi-nenserorganisatäonen, macht die IRA jeden ihr nicht genehmen Ausgleich zunichte. Es gibt auch Parallelen zur Situation Algeriens vor der Erlangung der Unabhängigkeit: Frankreich und die französischen Siedler betrachteten Algerien als unverbrüchlichen Teil des Mutterlandes, während in Algerien die Mehrheit, in Nordirland eine Minderheit der Bevölkerung nicht bereit war (ist), diesen Status anzuerkennen.

Die IRA ist eine Minderheit innerhalb der Minderheit, der militante Kern des katholischen Bevölkerungsdrittels. Daß die Mehrheit der Bevölkerung, katholisch oder protestantisch, nur noch Frieden will, ist richtig, doch darf darüber nicht übersehen werden, daß die IRA mit zelotischer Verbissenheit und von keinen Skrupeln beeinträchtigten terroristischen Methoden eine Position vertritt, die von der überwiegenden Mehrheit der nordirischen Katholiken — weniger bewußt und mit viel geringerer Intensität — grundsätzlich geteilt wird — eben die oft rekapitulierte Position des irischen Nationalismus.

Nun ist anderseits die Heilige Kuh der nordirischen Katholiken, die auf den Namen „Wiedervereinigung Ulsters mit der Republik“ hört, in den letzten Jahren leicht abgemagert.Auch den nordirischen Katholiken ist längst klar geworden, in welchem Ausmaß sich Nordirland und der Süden nicht erst in dem halben Jahrhundert seit der Teilung auseinandergelebt haben. Seit dem Beginn irischer Geschichte „dem Fremden leichter geneigt“, war Ulster Einfallstor für prähistorische Siedlungs-wellen von Schottland her, dann Ausfalls'tor für die spätere Kolonisierung Schottlands von Irland her, und wiederum, vor allem seit Crom-well, Einfallstor für Wellen protestantischer Einwanderer vorwiegend aus Schottland, die als Werkzeug der britischen Kolonialpolitik dienten und vorwiegend in Ulster angesiedelt wurden. Der „Unionismus“, die fanatische Englandtreue der nordirischen Protestanten, hat ebenso tiefe historische und ethnographische Wurzeln wie der gesamtirische Nationalismus der Katholiken.

Tief im vorigen Jahrhundert, also in einer Zeit, in der dem Rest Irlands noch eine Rolle als billiges Nahrungsmittelexportland für England zugedacht war, begann in Ulster bereits der Industrialisierungsprozeß, der auch zu einer schwerwiegenden wirtschaftlichen Disparität geführt hat. Nicht nur die britische Wirtschaftspolitik und Sozialgesetzgebung in Nordirland, sondern auch die weit zurückreichende Benachteiligung des übrigen Irland führte zu einem auch heute noch normen Entwicklungsgefälle.

Dies alles wären Gründe für die katholische Minderheit, sich mit der protestantischen Mehrheit zu arrangieren. Tatsächlich gibt es viele Hinweise dafür, daß Nordiriands Katholiken für jedes Arrangement zu haben wären, das ihnen Hoffnung macht, daß sie die traditionelle Benachteiligung gegenüber ihren protestantischen Mitbürgern überwinden können, und wenn ihnen irgend jemand diese Perspektive eröffnen kann, ist es Gerry Fitt mit seiner „Social Democrat and Labour Party“ (SDLP), die heute eine starke Stellung innerhalb Nordiriands leider ohnmächtiger, weil von den Extremisten beider Lager bekämpfter Re-gierungskoali'tion hat. Schon die Serie von Bürgerrechtsdemonstrationen, die 1969 den Auftakt zum gegenwärtigen nordirischen Chaos bildete, war darauf angelegt, den Katholiken die Gleichberechtigung in Nordirland zu erkämpfen und nicht den Anschluß an die Republik.

Es war Nordirlands Verhängnis, daß in dieser Situation eine Macht Gewehr bei Fuß stand, die sich seit der Teilung der Insel in ununterbrochener Tradition als im Kriegszustand mit England befindlich betrachtet und noch jede Gelegenheit benützte, aus den Latenzperioden dieses Krieges in offene Feindseligkeiten überzuleiten: Die IRA oder Irisohe Republikanische Armee. In Irland macht jede Hoffnung auf Vernunft die Rechnung -ohne- den Wirt, nämlich ohne den Wahnsinn, ohne den Fanatismus, ohne den Terror der IRA, die, ähnlich wie die palästinensischen Terroristengruppen im Nahen Osten, mit der Möglichkeit, den Terror zu eskalieren, ein Vetorecht gegen die Vernunft, gegen jeden Kompromiß, in der Hand hat. Die IRA ist leider nicht einmal auf südirische Aktionsbasen angewiesen, ihre Aktionsbasis sind die nord-irischen Katholikenghettos, deren Einwohner durch den Terror des Fememordes bei der Stange gehalten werden, und der beste Verbündete der IRA sind die protestantischen Fanatiker, die ihrerseits wahllos Katholiken ermorden — und der IRA helfen, sich als der große Beschützer der katholischen Unterschicht zu profilieren.

Ohne die IRA wäre das nordirische Problem leicht auf der von allen Kompromißbereiten ausgegebenen Marschroute zu lösen: Anhe-bung des Lebensstandards der Katholiken in Nordirland, Mitwirkung der Minderheit an den politischen Entscheidungen, volle Bürgerrechte für die Katholiken, verbunden mit einem Prozeß der Annäherung zwischen Republik und Nordirland, wie er ja mit dem Irischen Rat bereits in Gang gesetzt wurde. Im Irischen Rat sitzen heute nordirische Stor-mont-Abgeordnete, Parlamentarier aus Westminster und Vertreter Dublins nebeneinander. Aber dieser Nordirische Rat, einst — lange vor der Teilung — von den irischen Nationalisten ersehnt und von London verweigert, ist heute der IRA längst zuwenig und dem rechten nordirischen Protestan'tenflügel noch immer zuviel.

Wer auf das Minimum an Ruhe hofft, das notwendig wäre, um Nordirland die Chance zu einer Entwicklung zu geben, an deren Ende entweder die nordirischen Katholiken die Wiedervereinigung mit der Republik gar nicht mehr wollen oder die Protestanten bereit sind, ebenfalls für sie zu stimmen, vergißt das Vetorecht des Fanatismus. Im nordirischen Parlament, Stormont, werden heute die Katholiken und die Protestanten, die Linken und die Rechten der um friedlichen Ausgleich bemühten Regierungskoalition von den protestantischen Ultras unter der Regie des sinistren protestantischen Pastors Paisley niedergebrüllt, während draußen die Bomben der ebenso düster-fanatischen katholischen IRA krachen. Das ist die Realität, in der kaum eine Chance für einen dauerhaften Ausgleich zu sehen ist.

In dieser Situation stellt sich immer unüberhörbarer, wenn auch in London über alle Parteigrenzen hinweg beharrlich verdrängt und verleugnet, die Frage, ob man gut beraten war, als man sich darauf festlegte, zwar die Army nach Nordirland zu schicken, um für Ruhe zu sorgen, einschneidende politische Maßnahmen aber von einem nicht herstellbaren nordirischen denn akratischen Konsensus abhängig zu machen. (Der freilich nur heißen könnte: Ingangsetzung eines irreversibel auf Wiedervereinigung der schließlich einst recht willkürlich getrennten Insel programmierten Prozesses auch gegen den Willen einer nordirischen Bevölkerungsmehrheit.) Es fragt sich, wer mit einer solchen Lösung glücklich wäre, doch sie würde immerhin den Frieden in greifbare Nähe rücken. Auch an die in vielen katholischen Zirkeln favorisierten föderativen Konzepte wäre zu denken — doch was immer geschieht, es wird nicht gegen die IRA,sondern nur mit der IRA möglch sein.

Gegenwärtig wird sie auf der politischen Ebene ignoriert, während man sich auf der Straße fragt, wer die Jäger und wer die Gejagten sind. Das Schlimmste, was Nordirland, aber auch der britischen Demokratie zustoßen könnte, wäre, daß man aus Angst vor harten politischen Maßnahmen zu militärischen Maßnahmen greift, die das bestätigen, was die IRA längst ausgerufen hat: Den offenen Kriegszustand.

Denn die IRA ist militärisch eine Macht. Und darum ein politischer Faktor, der nur um den Preis sinnlos geopferter Menschenleben negiert werden kann.

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