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Perverse Ausweglosigkeit
Die an Tragik, Rückschlägen und Enttäuschungen so reiche Geschichte Nordirlands ist um ein neues, bitteres und absurdes Kapitel reicher geworden. Bitter, weil die erste längere Friedensperiode in der Provinz seit über fünf Jahren ein unerwartetes Ende gefunden hat und der Terror sehr bald nicht nur in Nordirland selbst, sondern auch in England wieder sein blutiges Regime antreten dürfte; absurd, weil sich die Führung der provisorischen IRA bei ihrer Ablehnung einer Verlängerung des 25tägigen Waffenstillstands einer Sprache bedient hat, die jedem gesunden Empfinden Hohn spricht In der langen, wortreichen Erklärung des sogenannten Armeerats der provisorischen IRA hieß es unter anderem, der Rat könne es „mit seinem Gewissen nicht vereinbaren”, den Waffenstillstand zu verlängern, weil die britische Regierung auf die Friedensvorschläge der IRA „in keiner Weise reagiert” habe. Die Vorstellung von IRA-Terroristen, deren Gewissen darunter leidet, daß sie seit mehreren Wochen keine cm- schuldigen Menschen mehr in Gaststätten und Kaufhäusern in die Luft gesprengt haben, läßt einem fast am eigenen Verstand zweifeln, ist aber letztlich nur ein neuer Beweis für die ganze Perversion und Ausweglosigkeit des nordirischeri Problems.
Tatsache ist, daß die IRA-Führung selbst durchaus nicht einstimmig zu ihrem folgenschweren Entschluß gekommen ist; vielmehr dürften wenigstens vier der acht Mitglieder des Armeerates zuerst für die Verlängerung des Waffenstillstandes gestimmt haben, bis sich schließlich doch die militantere Auffassung durchsetzte. Dabei schiene die IRA, wenn gesunder Menschenverstand bei ihren Erwägungen eine Rolle spielte, wenigstens zwei triftige Gründe zu haben, ihre blutige Konfrontation mit Gott und der Welt endlich zu beenden oder wenigstens auf längere Zeit zu vertagen. Der erste und vielleicht zwingendste dieser Gründe ist der unleugbare Erfolg der britischen Sicherheitsstreitkräfte in Nordirland, die sich in den letzten Jahren zu einer der am besten organisierten Guerillabekämpfungseinheiten in der ganzen Welt entwickelt haben. In den beiden vergangenen Jahren konnte in Nordirland die Zahl der Bombenexplosionen um über die Hälfte und die Zahl von Heckenschützenangriffen um zwei Drittel gesenkt werden — eine statistische Tatsache, die über den vereinzelten Sensationsund Schreckensmeldungen oft übersehen wird. Ein großer Teil dieses Erfolges ist dem gut ausgebauten Informationssystem der britischen Armee in Nordirland zuzuschreiben, und den Informationsquellen aus der nordirischen Bevölkerung, auf deren katholischen Teil sich die IRA zuerst selbst absolut verlassen zu können glaubte. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, daß die meisten dieser Menschen heute der Forderungen der Terroristen zutiefst überdrüssig sind, der Entrichtung von „Schutzgeldern”, des Versteckens von Flüchtlingen und der Anwerbung von Kindern als Handlanger der IRA.
Darüber hinaus scheint es heute offensichtlich zu sein, daß die IRA mit ihrem Bombenanschlag im vergangenen November in Birmingham, bei dem über 20 Menschen ums Leben kamen, einen entscheidenden taktischen Fehler begangen hat. Viele der Todesopfer waren katholische Mädchen aus Irland, und die Reaktion des echten, tiefen Abscheus über diese Tat war auch in den katholischen Vierteln von Belfast unverkennbar, ganz abgesehen von der Reaktion in der englischen Öffentlichkeit, die nach diesem feigen Massenmord den Kampf gegen die IRA weit mehr als bisher als einen englischen Kampf zu betrachten begann.
Aber all diesen Erwägungen zum Trotz bleibt die Tatsache bestehen, daß die Terroristen der IRA von einer entscheidenden Niederlage noch weit entfernt sind, daß es immer noch in ihrer Macht steht, die Straßen nordirischer und englischer Städte zum Schauplatz weiterer Bluttaten zu machen. Wenn der britische Nordirlandminister Rees jetzt gesagt hat, er werde sich weder durch Kugeln noch durch Bomben bei seinen Entscheidungen beeinflussen lassen, so ist dies zwar eine noble Erklärung, doch ist es stets kostspielig, ein Cato zu sein, kostspielig an Zeit, an Material und vor allem an Menschenleben. Es ist daher durchaus begreiflich, daß sofort nach der Aufkündigung des Waffenstillstands der Versuch einer neuen Kontaktaufnahme mit der provisorischen IRA unternommen wurde — ob dies nun, wie das IRA-Oberkom- mando behauptet, über direkte Intervention von Premierminister Wilson geschah oder nicht Auf jeden Fall sind zwei britische Regierungsbeamte, Mitglieder des Nordirlandministeriums, in Belfast mit zwei Führern der Sinn Fein, des politischen Zweiges der IRA, zusammengetroffen, und politische Beobachter rechnen fest mit einer wenigstens kurzfristigen Verlängerung des Waffenstillstands. Die Bedingungen der IRA: Neuwahlen in Nordirland und in der Irischen Republik, eine britische Grundsatzerklärung über den Abzug aller britischen Truppen innerhalb einer festgesetzten Zeitspanne und eine totale Amnestie aller verhafteten und gesuchten IRA- Mitglieder und Anhänger, diese Bedingungen sind in ihrer jetzigen Form für die britische Regierung wahrscheinlich nicht annehmbar. Aber sobald doch wenigstens verhandelt wird, solange eine Kommunikation zwischen den beiden Seiten am grünen Tisch und nicht über das Gewehrvisier hinweg stattfindet, solange gibt es wenigstens wieder einen Funken Hoffnung, und die Fürbitten der vielen Tausende von Menschen beider Religionen, die sich während der letzten Tage in strömendem Regen vor dem Rathaus von Belfast einfanden, um mit ihrem Klerus gemeinsam für den Frieden zu beten, werden dann vielleicht doch eines Tages erhört werden.
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