6839641-1975_36_06.jpg
Digital In Arbeit

„Irrtümlich“ auch Kinder

19451960198020002020

Mit der Bombenexplosion in einem Gasthaus in Belfast, wo zwei Menschen ums Leben kamen und zwölf verletzt wurden, ist die Zahl der Todesopfer auf 18 angestiegen — und diese Schreckensbilanz, die beim Erscheinen dieser Zeilen schon längst wieder übertroffen sein könnte, ist das Ergebnis von nur wenigen Wochen, seit mit dem 9. August die neue Welle Sektiererischer Morde in Nordirland wieder begann.

19451960198020002020

Mit der Bombenexplosion in einem Gasthaus in Belfast, wo zwei Menschen ums Leben kamen und zwölf verletzt wurden, ist die Zahl der Todesopfer auf 18 angestiegen — und diese Schreckensbilanz, die beim Erscheinen dieser Zeilen schon längst wieder übertroffen sein könnte, ist das Ergebnis von nur wenigen Wochen, seit mit dem 9. August die neue Welle Sektiererischer Morde in Nordirland wieder begann.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Tragik dieses erneuten Auf-flammens des Hasses in der nordirischen Provinz liegt nicht nur in dem sinnlosen Hinmorden oft völlig unschuldiger Menschen — vor ein paar Tagen war ein vierjähriges Mädchen „irrtümlich“ den Kugeln der Heckenschützen zum Opfer gefallen — sondern auch in der Tatsache, daß es gerade jetzt zu immer konkreteren Berichten über die stark verbesserten Beziehungen zwischen Vertretern der protestantischen und der katholischen Gemeinschaft in Nordirland gekommen war, die sich wieder einmal um eine verfassungsmäßige Regelung der Machtverhältnisse in der Provinz bemühen.

Es war stets eines der Hauptprobleme der nordirischen Situation, daß die Terroristen auf beiden Seiten immer dann ihre mörderischen Aktivitäten wieder aufnahmen, sobald sich die Möglichkeit einer friedlichen Lösung abzuzeichnen begann. Diese Männer der Gewalt, deren einzige Antwort auf alle Fragen Gewehre und Bomben sind, sehen ihre Daseinsberechtigung durch eine demokratische Einigung in der Provinz gefährdet und tun daher alles, um sie zu sabotieren.

Und dabei hatten die kürzlich einberufenen Verhandlungen zwischen Vertretern der protestantischen Vereinigten Unionspartei von Ulster und der katholischen Sozialdemokratischen und Labourpartei (SDLP) in einer geradezu erstaunlich freundschaftlichen Atmosphäre begonnen. Wenn auch die wesentlichste Streitfrage, die echte Teilung politischer Macht im Rahmen einer neuen nordirischen Verfassung, nach wie vor nicht lösbar schien,' so konnte doch in manch anderer Hinsicht ein echtes Umdenken auf beiden Seiten festgestellt werden.

So ist etwa die SDLP durchaus nicht mehr so kompromißlos wie früher, was das Anstreben einer zukünftigen gesamtirischen Lösung, also eines Vereinigten Irlands betrifft; dieses Konzept, das für die protestantischen Loyalisten stets ein Schreckgespenst war, ist unter anderem auch durch wiederholte

Äußerungen der irischen Regierung in Dublin entschärft worden, die eine Aufnahme von Ulster in die Republik als vorläufig völlig unrealistisch ablehnt. Wichtiger aber ist darüber hinaus die wachsende Überzeugung in Kreisen gemäßigter, fortschrittlicher katholischer Politiker, daß etwa die Einwohner der nordirischen Hauptstadt Belfast ungeachtet ihrer verschiedenen Religionen mehr miteinander gemeinsam haben als mit den Einwohnern der südirischen Hauptstadt Dublin. Es war dieses anscheinend immer mehr erstarkende „nordirische Bewußtsein“, das vor allem die jetzige Runde der katholisch-protestantischen Verhandlungen in Belfast so hoffnungsvoll und aussichtsreich erscheinen ließ.

Inzwischen wurden diese Verhandlungen aber plötzlich vertagt, gerade, als sie in eine entscheidende Phase einzutreten begannen, und es kann zur Zeit noch nicht mit Sicherheit erklärt werden, ob dies eine Folge der erneuten Gewalttätigkeiten in Nordirland war. Diese Terrorwelle, für welche die IRA ebenso wie paramilitärische protestantische Extremistengruppen verantwortlich sind, kann zwei verschiedene Auswirkungen haben: entweder ein aus Furcht und Vergeltungsstreben geborenes Verhärten beider Fronten, oder aber eine verstärkte Einsicht bei demokratischen Politikern beider Seiten, daß dadurch ihre letzte Chance auf ein friedlich ausgehandeltes Abkommen gefährdet wird. Dabei würde es bei einem neuerlichen Fehlschlag nur zwei gleichermaßen unerfreuliche Alternativen geben: entweder eine Direktregierung der Provinz Nordirland von London aus, gestützt durch verstärkte britische Truppen und erneute Internierungen in großem Ausmaß, oder aber eine völlige Distanzierung Englands mit dem Abzug der. britischen Truppen aus der Provinz. Allerdings hat die britische Regierung trotz starker Versuchungen diese Maßnahme bisher konsequent abgelehnt, weil sie zweifellos den Ausbruch eines offenen Bürgerkrieges in Nordirland nach sich ziehen würde.

Ganz plötzlich ist die Situation viel weniger hoffnungsvoll geworden. Bei einem Treffen zwischen dem Staatssekretär im britischen Nordirlandministerium, Stanley Orme, und einer Delegation der Unionspartei wurde die britisehe Regierung von der wachsenden Verbitterung der nordirischen Protestanten in Kenntnis gesetzt, sowie davon, daß es nach dem Muster des vorjährigen Generalstreiks zu einer erneuten schweren Konfrontation zwischen „Loyalisten“ und britischen Truppen in Nordirland kommen könnte, falls diese nicht „energische Maßnahmen“ gegen „Terroristen“ treffen würden. Da mit „Terroristen“ in diesem Fall vermutlich nur die IRA, nicht aber protestantische Extremisten gemeint sind, kann die britische Regierung dieser Forderung wohl kaum zur

Photo: Keystone völligen Zufriedenheit der, Vereinigten Ulsterunionspartei entsprechen, deren weiteren Aktionen man daher mit Besorgnis entgegensehen muß. Einer der Führer der noch weiter rechts stehenden protestantischen Vanguard-Bewegung, Glenn Barr, erklärte auf einer Pressekonferenz offen, die nordirischen Loyalisten hätten nicht das geringste Vertrauen in die Art und Weise, in der „die Kräfte von Gesetz und Ordnung zur Zeit in Nordirland politisch geleitet“ würden.

Wo beginnt beginnt und wo endet der Teufelskreis der nordirischen Krise? Sind es die Mordanschläge der Terroristen, welche die Kompromißbereitschaft der Politiker immer wieder versiegen läßt? Sind es politische Fehlentscheidungen, die verzweifelte Idealisten auf die Straße und in die Arme der Terroristen treiben? Wie dem auch sei, die einfachen Männer, Frauen und Kinder in den nordirischen Städten müssen vorläufig weiterhin damit rechnen, daß der Besuch einer Kneipe oder auch nur das Überqueren einer Straße für sie den plötzlichen Tod durch Bomben oder Kugeln bedeuten kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung