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Ratgeber Haß

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Die Übernahme der gesamten Regierungsagenden in Nordirland durch London schien erste Früchte zu tragen. Flügel der Irischen Republikanischen Armee hatten ihre Gewalttätigkeiten vorläufig eingestellt. Die reguläre IRA gab bereits im Mai einen einseitigen „Waffenstillstand“ bekannt. Ende Juni kündigten nun auch die Mitglieder der provisorischen IRA eine unbefristete Periode des Stillhaltens an. Die nächste Runde im Ringen Irlands schien mit politischen Mitteln ausgefochten zu werden.

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Die Übernahme der gesamten Regierungsagenden in Nordirland durch London schien erste Früchte zu tragen. Flügel der Irischen Republikanischen Armee hatten ihre Gewalttätigkeiten vorläufig eingestellt. Die reguläre IRA gab bereits im Mai einen einseitigen „Waffenstillstand“ bekannt. Ende Juni kündigten nun auch die Mitglieder der provisorischen IRA eine unbefristete Periode des Stillhaltens an. Die nächste Runde im Ringen Irlands schien mit politischen Mitteln ausgefochten zu werden.

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Eine Reihe von Umständen führte diese Wende herbei. In den letzten Monaten fiel es den Terroristen immer schwerer, für ihre Verbrechen die nötige Unterstützung bei der katholischen Minderheit zu finden. Ohne bedeutenden Rückhalt in der eigenen Bevölkerung läßt sich aber kein Kleinkrieg durchhalten. Überdies erreichte auf protestantischer Seite die Entschlossenheit, organisiert zurückzuschlagen, ein bedrohliches Ausmaß. Die Ultras in der Ulster-Heimwehr (Ulster Defence Association) befürworteten schon ganz offen den Gegenterror. Hätte die IRA ihre Anschläge und Morde trotz allem fortgesetzt, so wäre zwischen Katholiken und Protestanten in absehbarer Zeit der Bürgerkrieg ausgebrochen.

Anderseits war der Minister für Nordirland, Whitelaw, bereit, der IRA verschiedene Zugeständnisse zu machen. Er war damit einverstanden, den Terroristen im Crumllin-Gefäng-nis den Status hal'bpolitischer Häftlinge einzuräumen. Weiters bot er an, die Haftstrafen aller gerichtlich Verurteilten zu überprüfen. Er sagte zu, Zwangsinternierte, die lediglich aus Verdacht festgenommen worden waren, demnächst freizulassen. Das Militär werde gleichzeitig seine Präsenz abbauen und nicht mehr auf flüchtige Freischärler Jagd machen. Für die von der IRA abgeriegelten Gebiete in Belfast und Londonderry versprach Whitelaw Sondenmaßnahmen zur wirtschaftlichen Unterstützung. Doch vor allem stellte er der Provisorischen IRA in Aussicht, sie nach längerer Waffenruhe direkt an Verhandlungen zu beteiligen.

Gesamtirische Konferenz

Sowohl Whitelaw als auch die Führer der IRA haben eingesehen, was eine militärische Lösung der irischen Frage kostet. Der IRA ist nämlich klar der blutige Nachweis gelungen, daß gegen ihren Widerstand keine politische Lösung denkbar ist. Diese Erfahrung würde bei künftigen Verhandlungen eine bedeutende Rolle spielen. Die Wiedervereinigung Irlands war damit jedoch noch lange nicht in greifbare Nähe gerückt. Denn die protestantische Mehrheit in Ulster wehrt sich nach wie vor dagegen, ein Gesamtirland überhaupt als Thema offizieller Gespräche anzuerkennen.

Dabei haben die politischen Vorstellungen der IRA viel für sich. Auf einer Pressekonferenz am 28. Juni in Dublin trat ihr Provisorischer Flügel mit einem geschlossenen Programm an die Öffentlichkeit. Das „neue Irland“ soll demnach in vier autonome Regionen aufgeteilt werden. In der Provinz Ulster, die das gegenwärtige Nordirüand sowie drei Grafschaften der jetzigen Republik umfassen würde, hätten die Protestanten die Regierungsmehrheit.

Die Zentralverwaltung läge in den Händen einer irischen Bundesregierung mit sehr beschränkten Kompetenzen. Außer der Finanzhoheit würde dem Bund nur die Führung der Außen- und Verteidigungspolitik zufallen. Für alle anderen Bereiche staatlicher Aufgaben wären die Regionen oder deren Unter-eliederungen zuständig. Diese erfreulich „bürgernahe“ Machtverteilung würde auch als eigenes Prinzip im Grundrechtskatalog der Verfassung verbrieft werden.

Eine gesamtirische Konferenz, auf der solche Vorschläge beraten werden könnten, liegt jetzt aber mehr denn je in ungewisser Zukunft. In Ulster starben seit August 1969 260 Zivilisten, 96 Soldaten und 22 Polizisten, dazu kommt die Zahl der zum Teil schwer Verwundeten, sie beläuft sich auf mehr als 7000; manche Unglückliche wurden sogar hintereinander unschuldige Opfer mehrer Anschläge.

Der Sachschaden, den ungefähr 1500 Bombenexplosionen und Brandstiftungen anrichteten, beträgt rund 50 Millionen Pfund. Unternehmen schränkten ihre Tätigkeit ein und investierten fast gar nichts. Viele Betriebe mußten schließen, und keine neuen traten an ihre Stelle. Deshalb sind neun Prozent aller erwachsenen Männer arbeitslos. Das Vertrauen in die Wirtschaft Nordirlands hat so stark gelitten, daß massive Regierungshilfe erforderlich ist, um den akuten Mangel an Aufträgen einstweilen auszugleichen.

Nun, wo die IRA stillhielt, begannen protestantische Extremisten den Kreisel der Gewalt wieder in Gang zu setzen. Der labile Waffenstillstand ist in höchster Gefahr.

Selbst wenn die Waffen in Ulster wieder schweigen sollten, würde das Land lange brauchen, um sich zu erholen. Der alte, ungerechte Modus vivendi liegt in Trümmern. Ein neuer, besserer, hätte die schrittweise Versöhnung der feindlichen Lager zur Voraussetzung. Solange Haß und Mißtrauen auf beiden Seiten mächtige Ratgeber sind, wirkt indes jeder Kompromiß wie Verrat. Der Versuch, bei den kommenden Verhandlungen das Element der Drohung abzubauen und die beiderseitige Konzilianz au fördern, wird Whitelaws unleugbares Geschick als Vermittler auf eine harte Probe stellen.

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