6819479-1973_27_01.jpg
Digital In Arbeit

Ulsters Chance

19451960198020002020

In Nordirland- hat die Vernunft wieder eine kleine, möglicherweise allerdings allzu kleine Chance. Erstmals scheinen die Gemäßigten beider Lager, Protestanten und Katholiken, bereit, eine Koalition einzugehen, dpch eine solche Koalition hätte mit 60 Prozent der gültigen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent eine äußerst knappe Basis-. Während die Katholiken mit ihrem Wahlentscheid weitgehend IRA-Müdigkeit und Verständigungsbereitschaft bekundeten, sind im protestantischen Lager nach wie vor die „Tauben“ in der Minderheit.

19451960198020002020

In Nordirland- hat die Vernunft wieder eine kleine, möglicherweise allerdings allzu kleine Chance. Erstmals scheinen die Gemäßigten beider Lager, Protestanten und Katholiken, bereit, eine Koalition einzugehen, dpch eine solche Koalition hätte mit 60 Prozent der gültigen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent eine äußerst knappe Basis-. Während die Katholiken mit ihrem Wahlentscheid weitgehend IRA-Müdigkeit und Verständigungsbereitschaft bekundeten, sind im protestantischen Lager nach wie vor die „Tauben“ in der Minderheit.

Werbung
Werbung
Werbung

Vordergründig betrachtet, sieht es so aus, als hätte der Tod des katholischen Politikers Paddy Wilson und seiner protestantischen Begleiterin Irene Andrews dazu beigetragen, die gemäßigten Vertreter der beiden großen weltanschaulichen Lager zur Vernunft zu bringen. Die 50 Messerstiche in den beiden Leichen waren das Werk der protestantischen „Ulster Freedom Fighters“, die damit das von beiden Seiten strikt beachtete Tabu, Politiker nicht anzutasten, erstmals durchbrachen.

In Paddy Wilson verlor Ulster einen bedingungslosen Fürsprecher der konfessionellen Verständigung, einen Mann, der es strikte ablehnte, die in Nordirland obligate Pistole zu seinem eigenen Schutz zu tragen. In Zukunft werden sich die nordirischen Politiker nicht mehr so sorglos bewegen können wie bisher. Zumal die Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken in diesem Land heute mit insgesamt zwei oder drei Persönlichkeiten steht oder fällt, mit so ungleichen Partnern wie Brian Faulkner, Nordirlands letztem Ministerpräsidenten, auf der protestantischen und Gerry Fitt auf der katholischen Seite.

Denn nur Faulkner hat in dem längst zerfallenen einstigen unioni-stischen Block die Autorität, wenig“-stens die ihm verbliebene, zur Vernunft geneigte Minderheit zusammenzuhalten — ohne ihn wären die verständigungsbereiten Katholiken ohne Partner auf der anderen Seite. Fitt anderseits hat das Kunststück zuwege gebracht, eine konservative katholische Partei, die im fünfzigjährigen Clinch einer ebenso konservativen protestantischen Partei gegenüber stand, in die neue SDLP (Sozialdemokratische und Labour Party) zu verwandeln, in der der Katholizismus gegenüber dem Sozialismus in den Hintergrund tritt — womit die politische Organisation der nordirischen Katholiken erstmals mini-strabel wurde. Dieses politische Kunststück, das an die Quadratur des Zirkels grenzt, und nicht der tragische, aber zufällige Tod eines katholischen Abgeordneten schuf die Voraussetzung dafür, daß über eine protestantisch-katholische Koalitionsregierung in Ulster heute überhaupt gesprochen werden kann.

Was bisher jede Zusammenarbeit zwischen prot«stantischen und katholischen Parteien in Ulster und damit jede Beteiligung der Katholiken an der politischen Machtausübung unmöglich machte, war in erster Linie das stets betonte Primärziel aller katholischen Politiker, die Wiedervereinigung mit der Republik herbeizuführen, und damit den nordirischen Staat abzuschaffen. Viele katholische Politiker in Ulster waren Sozialisten, aber sie waren es immer in zweiter Linie. Fitt erkannte als erster, daß die katholische Partei, wenn man sie in eine Weltanschauungspartei im modernen Sinn verwandelte, aus der Isolation herausgeführt werden konnte, daß sie damit eine neue, auch für die Protestanten akzeptable Funktion im modernen Staate fand und auf diese Weise die hoffnungslose politische Isolation überwinden konnte. Nordirlands Katholiken, etwa ein Drittel der Bevölkerung, würden niemals durch Wählen einer katholischen, auf die Wiedervereinigung mit der Republik hinarbeitenden Partei an die Macht kommen.

Fitt hofft, seine SDLP auch für Protestanten wählbar zu machen, wie er dem Verfasser in einem Gespräch erläuterte. Zwar ist ihm dies noch nicht gelungen, doch immerhin gab selbst der radikale Protestant Craig bereits vorsichtig zu verstehen, daß er — wenn dadurch Ulster wieder von Stormont statt von White-law regiert werden könnte — sogar mit der SDLP zusammenarbeiten könnte, falls sie die Wiedervereinigung als „erstes Ziel“ fallen läßt.

Gerry Fitt dürfte damit bereits zur Schlüsselfigur der nordirischen Politik avanciert sein, auf jeden Fall zur Schlüsselfigur des katholischen Lagers, denn die IRA hatte mit ihrem Aufruf zur Wahlenthaltung nicht einmal in den radikalen katholischen Bezirken im Westen von Belfast den gewünschten Erfolg. Irlands Katholiken sind kampfmüde — viel müder des Kampfes als die protestantischen Extremisten, die heute radikaler und gefährlicher sind als die IRA. Sie haben vor allem Rückhalt in der protestantischen Bevölkerung — Faulkners offizielle Unionisten errangen 27 Prozent der Stimmen und 24 Prozent der Stor-mont-Sitze, die beiden intransigen-ten Protestantenparteien, Loyalisten und inoffizielle Unionisten, 36 Prozent der Stimmen und 26 Sitze. Sollten sich Faulkners 24 Abgeordnete mit den 19 Parlamentariern der SDLP zusammenschließen und die acht Abgeordneten der überkonfessionellen Allianz sowie den einzigen der nordirischen Labour Party für sich gewinnen, stünden einer Koalition von 52 Abgeordneten 26 Oppositionelle gegenüber.

Die Chance einer solchen Regierung stünde und fiele parlamentarisch mit der Standfestigkeit der 24 Faulkner-Unionisten, die einem starken Druck der radikaleren protestantischen Gruppierungen standzuhalten hätten — noch gefährlicher wären die Gewehre, Maschinenpistolen und Bomben der Extremisten beider Seiten, die, wie die Wahlen in Ulster nun gezeigt haben, nur vier Prozent der Bevölkerung, aber 100 Prozent des nordirischen Potentials an Skrupellosigkeit und Bereitschaft zu töten hinter sich haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung