Nordirland: Lange Schatten eines Konfliktes

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Wer den Konflikt um Nordirland und den Brexit verstehen will, muss weit zurückgreifen: Bis 1921, als der Staat Nordirland entstand, nachdem der Großteil der Insel infolge eines Unabhängigkeitskrieges in die Unabhängigkeit entlassen worden war. Die protestantische Bevölkerungsmehrheit etablierte einen defacto Einparteienstaat, geführt von der Ulster Unionist Party, der auf sozialer, kultureller und politischer Diskriminierung der katholischen Bevölkerung aufgebaut war. Dagegen gründete sich eine friedliche Bürgerrechtsbewegung. Doch vor 50 Jahren, am 5. Oktober 1968, wurde einer ihrer Protestmärsche brutal von der Polizei und radikalen Protestanten niedergeschlagen.

Der Tag gilt als Beginn des Nordirlandkonflikts und setzte eine Gewaltspirale in Gang. Auf katholischer Seite bewaffnete sich die IRA, die britische Armee wurde in die Provinz entsandt und auch auf protestantischer Seite bildeten sich paramilitärische Verbände. Spätestens 1972 war die Provinz in einem offenen Krieg versunken, an dessen Ende 1998 über 3500 Tote standen. Das von der irischen und britischen Regierung mit Hilfe der USA ausverhandelte Karfreitagsabkommens von 1998 setzte dem Blutvergießen zwar ein Ende, es etablierte aber ein politisches System permanenter Krise.

Viele der ehemals dominierenden Protestanten fühlen sich durch die Gleichstellung der Katholiken als Verlierer des Friedensprozesses. Diese Spaltung spiegelt sich im politischen System wider, das von Klientelpolitik geprägt ist.

Ein fragiles System

Die beiden größten Parteien sind die katholische Sinn Féin und die protestantische Democratic Unionist Party. Sinn Féin ist der ehemalige politische Arm der IRA, während die DUP die Partei des 2014 verstorbenen Ian Paisley ist. Das politische System verlangt, dass die größten Parteien der zwei Bevölkerungsgruppen die Regierung stellen. Statt überkonfessionelle Politik zu betreiben, gilt es einzig, die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Mit dem Karfreitagsabkommen wurde das nordirische Lokalparlament wiedereingesetzt. Seit damals lähmen sich die Parteienblöcke darin gegenseitig. Aufgrund eines Skandals um Spendengelder der nordirischen Regierungschefin Arlene Foster und ihrer DUP tagt das Parlament seit 9. Jänner 2017 nicht mehr. Nordirland wird direkt aus London regiert von einer Regierung, der die DUP angehört. Doch die DUP ist eine ultra-konservative Partei, deren Anhänger die Evolutionslehre und den Klimawandel leugnen -und sie sind Gegner jeglichen Kompromisses mit Brüssel.

Bereits 1985 erklärte Ian Paisley, die DUP werde "niemals, niemals, niemals" gegenüber Dublin oder London nachgeben. 33 Jahre später hat sich an der Parteilinie wenig geändert.

Als der damalige britische Brexit-Sekretär einen Sonderstatus andachte, konterte DUP-Chefin Foster sofort: "Wenn Nordirland anders behandelt wird als der Rest von Großbritannien, werden wir May nicht mehr unterstützen." Nordirland sei Teil von Großbritannien und alle Regelungen sollen im gesamten Königreich gleich gelten, so die Parteilinie. 66 %der Protestanten stimmten 2016 für den EU-Austritt, die überwiegende Mehrheit von ihnen sind DUP-Wähler.

Wie in Schottland hat auch in Nordirland eine Mehrheit von 56 %gegen den Brexit gestimmt. Unter den katholischen Wählern waren es sogar 85 %. Sinn Féin war gegen einen EU-Austritt. Seit dem Referendum ruft die Partei nun zu einer Grenzabstimmung über eine Wiedervereinigung der Insel auf. Parteivorsitzende Mary Lou McDonald lies Teresa May ausrichten: "Wenn es zu einem harten Brexit kommt, zu einer physischen Grenze und keiner Sonderregelung für Nordirland, dann muss diese Frage gestellt werden." Denn "niemand soll glauben, die Bevölkerung Nordirlands gegen ihren Willen aus der EU herausreißen zu können".

Politische Verhärtung

Was viele Protestanten von dieser Möglichkeit halten, machte Foster im April auf BBC klar: "Wenn eine Abstimmung zu einem geeinten Irland führt, kann ich mir nicht vorstellen, hier weiter zu leben. Ich werde wohl wegziehen." Die Verhärtung der Positionen auf beiden Seiten ist im Interesse von Sinn Féin. In den letzten Jahrzehnten wuchs der katholische Bevölkerungsanteil. Heute sind die beiden Bevölkerungsgruppen nahezu gleich groß. Das Kalkül von Sinn Féin ist, dass ein schlechter Brexit-Deal den Wunsch eines Verbleibs Nordirlands in der EU noch verstärkt, und bei einem zukünftigen Referendum über eine Wiedervereinigung dann eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung dafür stimmen würde, um so in die EU als Teil der Republik Irland zurückzukehren.

Der Plan funktioniert aber nur dann, wenn Nordirland zugleich schlecht regiert wird. Daher hat Sinn Féin kein Interesse, die Parlamentskrise in Belfast zu lösen und die Regierungsarbeit wieder aufzunehmen. Ebenso hat die DUP kein Interesse daran, denn sie ist die zentrale Unterstützerin der Tory-Regierung und kann so von London aus bequemer und ohne Einflussnahme der Katholiken von Sinn Féin über Nordirland bestimmen.

Eine Verlängerung der politischen Krise liegt im Interesse beider Parteien, um die nächsten Wahlen zu gewinnen und langfristig ihre eigenen Ziele durchzusetzen: ein harter Brexit auf der einen Seite, ein Referendum über die Wiedervereinigung auf der anderen Seite.

Die politische, soziale und wirtschaftliche Krise der Provinz wird sich dadurch verschärfen, zu einem Aufflammen des Nordirlandkonflikts wird es aber nicht kommen. Die republikanischen Paramilitärs der "neuen" IRA lehnen eine Grenze in jeder Form ab, gleich ob dies eine harte Grenze mit Wachposten und Zäunen oder eine unsichtbare Grenze mit elektronischer Warenkontrolle sein wird. In einer Stellungnahme der Organisation hieß es kürzlich, der Brexit werde "die harsche Realität der Teilung zurück in die Köpfe der Menschen bringen".

Sporadische Anschläge auf britische Wachposten sind denkbar, denn seit 1998 kommt es immer wieder zu vereinzelten Anschlägen. Nordirland hat immer noch die höchste Terrorwarnstufe Großbritanniens und so ist der Brexit für Tony Lloyd, den Nordirland-Sekretär im Labour-Schattenkabinett, "ein Geschenk an jene, die sich eine Rückkehr zur Gewalt wünschen". May betonte daher, "egal wie der Brexit aussehen wird, es muss garantiert werden, dass der Frieden bestehen bleibt".

Der Nordirlandkonflikt begann vor 50 Jahren aufgrund des Protestes gegen strukturelle Diskriminierung der katholischen Bevölkerung in allen Lebensbereichen. Heute ist Nordirland eine der ärmsten Regionen Großbritanniens, die Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe durch die andere ist aber vorbei. Das politische System zwingt allerdings zu einer Klientelpolitik. Gleich wie die Brexit-Verhandlungen ausgehen, es wird kein neuerliches Aufflammen des blutigen Nordirlandkonflikts über die Frage der inneririschen Grenze geben. Wenn es zu einer neuerlichen Radikalisierung relevanter Bevölkerungsteile kommt, dann wegen politischem Stillstand und sozialer Ungleichheit.

Der Autor ist Historiker am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und lehrt an der Universität Wien.

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