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Das Palastina im Atlantik

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Wieso existiert die IRA überhaupt noch? Wie kann eine Bewegung, deren Kampf um die Unabhängigkeit eines Landes vor mehr als 50 Jahren mit der ersehnten Staatsgründung geendet hatte, noch heute Furcht und Schrecken verbreiten, wieso ist ihre Organisation nicht längst zerfallen, die Anhängerschaft in alle Winde verlaufen? Am 6. Dezember 1921 unterschrieben britische und irische Unterhändler in Downing Street 10 jenes Statut, das Irland nach einem jahrhundertelangen Unabhängigkeitskampf einen großen Teil seiner Souveränität wiedergab. Warum warfen Irlands Unabhängigkeitsfanatiker daraufhin nicht ihre Waffen weg — oder landeten, wenn sie dies nicht tun wollten, selbst auf Trotzkis vielzitiertem Misthaufen der Weltgeschichte?

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Wieso existiert die IRA überhaupt noch? Wie kann eine Bewegung, deren Kampf um die Unabhängigkeit eines Landes vor mehr als 50 Jahren mit der ersehnten Staatsgründung geendet hatte, noch heute Furcht und Schrecken verbreiten, wieso ist ihre Organisation nicht längst zerfallen, die Anhängerschaft in alle Winde verlaufen? Am 6. Dezember 1921 unterschrieben britische und irische Unterhändler in Downing Street 10 jenes Statut, das Irland nach einem jahrhundertelangen Unabhängigkeitskampf einen großen Teil seiner Souveränität wiedergab. Warum warfen Irlands Unabhängigkeitsfanatiker daraufhin nicht ihre Waffen weg — oder landeten, wenn sie dies nicht tun wollten, selbst auf Trotzkis vielzitiertem Misthaufen der Weltgeschichte?

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Die Geschichte Irlands seit jenem 6. Dezember 1921 enthält eine wichtige, aber kaum jemals beachtete politische Lehre. Es ist die Lehre von der Gefährlichkeit halbherziger Lösungen dort, wo ein Konflikt bis zu jenem Grade gediehen ist, der nur noch eine ganze Lösung zuläßt.

Denn nicht die Teilung Irlands, sondern der innere Zwist Südirlands schuf jenen Nährboden, der das Überleben der IRA, der militantesten unter den militanten Organisationen aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfes, ermöglichte. Dieser innere Zwist Südirlands aber war auf die Tatsache zurückzuführen, daß Irland 1921 nicht nur geteilt, sondern daß überdies Südirland selbst jene volle staatliche Soveräni-tät verweigert wurde, die das Verschmerzen der Teilung erleichtert hätte.

Zur Generalbereinigung der irischen Frage bot sich 1921 eine beste und eine zweitbeste Regelung an, doch keine davon wurde realisiert. Die beste aller Lösungen, nämlich Entlassung Gesamtirlands in die Unabhängigkeit von England unter gewissen Garantien für die protestantische Minderheit, scheiterte, und die Detarls dieses Scheiterns lassen verblüffende Parallelen mit dem Geschick Palästinas erkennen. In beiden Fällen wurden konkurrierenden Interessentengruppen einander völlig widersprechende Versprechungen gemacht, so daß jeweils mindestens die einer Seite gegebenen Zusicherungen gebrochen werden mußten. In beiden Fällen wurde auf diese Weise. ein aktuelles politisches Problem für den Moment bereinigt — beide Male ein Problem, das große Bedeutung für das in eine militärische Auseinandersetzung im Weltmaßstab verwickelte England hatte. In beiden Fällen war der Preis die Verschleppung eines schwelenden Konfliktes, der viele Jahre später neuerlich außer Kontrolle geraten mußte und auch tatsächlich außer Kontrolle geriet.

Während Palästina mit* weithin bekannten Folgen sowohl den Arabern als auch den Juden bindend versprochen wurde, sagte Großbritannien den irischen Nationalisten ein ungeteiltes, Nordirlands Protestanten aber ein geteiltes Irland zu. Dieser Sachverhalt wird hier ohne den geringsten Anflug einer antienglischen Attitüde dargestellt, es geht lediglich um die historischen Wurzeln einer aktuellen Krisensituation, die ohne Kenntnis dieser Wurzeln nicht verstanden und ohne Bedachtnahme auf diese Wurzeln nicht bereinigt werden kann.

Jede Beurteilung der Frage, ob Irland eines Tages wiedervereinigt werden kann und wiedervereinigt werden soll, muß davon ausgehen, wie die Teilung Irlands zustande kam, was diese Teilung damals für die Geteilten bedeutet hat und wieweit diese Bedeutung heute noch gilt.

So gut wie alle offiziellen britischen Statements der Gegenwart lassen den Verdacht aufkommen, daß die näheren Umstände, unter denen Irlands Teilung zustandekam, verdrängt werden. Denn mit der Teilung Irlands wurde eine Verlegenheitslösung realisiert, die während des ersten Weltkrieges geboren worden war, um den bedrohten Zusammenhalt des Empire zu retten, zugleich aber mit einem jahrzehntelang von keiner Seite ernstlich in Frage gestellten Grundsatz, dem eines unteilbaren Irland, gebrochen.

Allerdings hatte man früher gelegentlich mit dem Teilungsgedanken gespielt, um die Nationalisten unter Druck zu setzen. Der Ire Frank Gal-lagher ist nur einer von vielen (auch englischen) Historikern, die es so sehen: „Sie kämpften mit vielerlei Waffen gegen die Selbstverwaltung, eine davon war der Vorschlag, Irland zu teilen. Wann immer er in den frühen Tagen der ,Home-rule'-Kontroverse vorgebracht wurde, bestand, wie schon gezeigt, keinerlei Absicht, die Teilung zu realisieren. Es handelte sich lediglich um eine Form der Erpressung, denn der Masse der Iren aller Schichten und Bekenntnisse war der Gedanke an ein zerrissenes Irland so verhaßt, daß man hoffte, die Forderung nach Freiheit damit abwehren zu können, daß man darauf beharrte, selbst die abgeschwächteste Form der Selbstverwaltung könne ein zergliedertes Irland bedeuten1.“

Als Irland dann tatsächlich an der Schwelle der Tür zur Selbstverwalung, home rule, stand, schien niemand an eine Teilung zu denken. Premierminister Asquith erklärte am 11. Juni 1912 im Unterhaus, man könne „Irland genauso wenig zerteilen wie England oder Schottland“, die Iren hätten vielmehr „eine größere grundlegende Einheit in Rasse, Gemütsart und Tradition“ (Zwischenrufe: „Oh!“)!. Sein späterer Nachfolger Lloyd George bekräftigte zwei Tage später: „Nehmen Sie all die großen Fragen, die in jahrelangen Diskussionen in Irland wie in diesem Land in den letzten zwanzig, dreißig Jahren und noch früher behandelt wurden, so werden Sie finden, daß Irland immer als Ganzes gehandelt hat, als eine eigene Einheit, und daß es niemals die Forderung irgendeiner Grafschaft in Irland oder irgendeines Teiles von Irland gegeben hat, daß Ulster gesondert behandelt werden sollte3.“

Wenige Wochen später reist Lord Asquith nach Dublin, wo er verkündet, Irland sei „nicht zwei Nationen, sondern eine Nation. Es gibt nur wenige Beispiele in der Geschichte, und als Mann, der die Geschichte nur in bescheidenem Maß studiert hat, kenne ich keines, einer so ausgeprägten, beständigen, homogenen Nationalität wie der irischen4.“

Ein weiterer späterer Premier Großbritanniens, Ramsey MacDo-nald, hat noch zwei Jahre später, am Vorabend des ersten Weltkrieges (am 9. März 1914) im Unterhaus gefragt: „Wird Ulster das Recht Irlands in Frage stellen, stets als geeinte Nation zu sprechen, zu handeln und sich selbst zu regieren?“ und die Antwort selbst gegeben: „Wir sagen nein, nachdrücklich nein5!“

Doch als der erste Weltkrieg ausbrach, drohten Großbritannien Bürgerkrieg und Armeemeuterei. Trotz des durchaus gemäßigten Entwurfes für eine home rule bill (gemessen an den Forderungen zu Zeiten eines Parnell), der lediglich ein Zweikammersystem für Dublin, aber kaum mehr Unabhängigkeit für Irland vorsah, als Nordirlands unionistisches, englandtreues Parlament Stormont später genoß, stellte Ulsters Protestantenführer Sir Edward Carson eine Freiwilligenarmee auf, die im Oktober 1913 vom Süden mit der Gründung der Irish Volunteer Force (die zum Vorläufer der IRA wurde) unter dem Kommando von Eoin MacNeill, Professor für irische Frühgeschichte und Vizepräsident der Gälischen Liga, beantwortet wurde. Beide Truppen genießen eine Art stillschweigender Duldung von Seiten der Armee und veranstalten öffentliche Waffenübungen.

Am 9. März bringt Lord Asquith die home rule bill zur letzten Lesung ein — sie enthält einen unter schweren Bedenken formulierten Kompromiß. Die Ulster-Grafschaften sollen entscheiden können, ob sie sich der Jurisdiktion des Parlaments in Dublin unterstellen wollen, anderenfalls sollen sie für sechs Jahre von der home rule bill ausgenommen werden.

Carson ist damit äußerst unzufrieden, aber Asquith hat sich dem Nationalistenführer Redmond gegenüber verbürgt, daß Carson keine weiteren Zugeständnisse gemacht werden. Die Unionisten drohen nun mit dem Bürgerkrieg. Am 19. März 1914 befiehlt Oberbefehlshaber Sir Arthur Paget seinen Generalen, sich für einen eventuellen Bürgerkrieg bereitzuhalten, wer dazu nicht bereit sei, habe mit pensionsloser Entlassung zu rechnen. Brigadegeneral Gough, Kommandant des Standortes Curragh, gibt diese Weisung in ultimativer Form an seine Offiziere weiter, die mit großer Mehrheit beschließen, lieber den Abschied zu nehmen als gegen Carsons protestantische Ulster-Armee vorzugehen und eine vom Londoner Unterhaus beschlossene Lösung für Irland mit Gewalt durchzusetzen.

Die Regierung macht einen Rückzieher: Von einem Einmarsch nach Ulster sei keine Rede gewesen, man habe lediglich an den Schutz der Munitionsdepots vor Bandenüberfällen gedacht. In der Nacht vom 24. auf den 25. April werden an zwei Stellen der Küste von Ulster 40.000 deutsche Mausergewehre und drei Millionen Schuß Munition für die Protestanten entladen. Das Kabinett erwägt, die Ulster-Bewegung für hochverräterisch zu erklären und Carson (sowie zwei andere Führer der Ulster-Armee) vor Gericht zu stellen — konservative Abgeordnete obstruieren, der Generalstaatsanwalt von Irland verfolgt die Sache nicht weiter. Derartige Auflösungserscheinungen geben im Ausland Anlaß zu Mißverständnissen, die möglicherweise weltgeschichtliche Folgen hatten.

Im Rückblick auf diese Situation hat Lloyd George am 9. September 1924 in Penmaenmawr erklärt: „Erinnern wir uns daran, daß jener Streit einer der für den großen Weltkonflikt von 1914 verantwortlichen Gründe war. Es ist sehr fraglich, ob der Krieg erklärt worden wäre, wenn man auf dem Kontinent nicht geglaubt hätte, Britannien sei von seiner inneren Uneinigkeit über die irische Frage so in Anspruch genommen, daß es in einer europäischen Auseinandersetzung nicht intervenieren könnte. Für die Welt schienen wir damals eine Nation an der Schwelle des Bürgerkrieges mit einer meuternden Armee zu sein8.“

Eine Bestätigung dafür liefert unter anderen der damalige US-Botschafter in Berlin (September 1913 bis Februar 1917), James Gerard: „Zweifellos war das deutsche Außenministerium überzeugt, daß sich Großbritannien aus dem Krieg heraushalten werde. Die Aufstellung der Ulster-Armee durch Sir Edward Carson wurde von den deutschen Spionen als echte und ernste Revolutionsbewegung geschildert und selbstverständlich glaubten die Deutschen, Irland werde sich im Augenblick einer Kriegserklärung in einem Aufstand erheben7.“

Doch die deutsche Führung hat sich auch in diesem Punkt Illusionen hingegeben. Im August 1914 strömen aus beiden Lagern, dem irischkatholischen und dem irisch-protestantischen, Scharen von Freiwilligen zu den Fahnen. Carson aber, der zweifellos in der Phase heraufziehender Kriegsgefahr England gegenüber mit dem Feuer gespielt hat, erweist sich nun als loyal. Bessere Psychologen als die des deutschen Generalstabes (und Außenamtes) hätten dies voraussehen können. Doch Carsons Loyalität hat Ihren Preis, einen Preis, an dem Irland noch heute zahlt.

England braucht Ruhe in Irland und versichert sich der Loyalität beider Seiten. Lloyd George beschwört die Nationalistenführer, die Unterstützung ihrer Freunde und ihres Volkes für ein Abkommen zu erkämpfen, das die home rule act sofort — allerdings nur für die Kriegsund eine kurze Nachkriegszeit — In Kraft setzen, Dublin ein Parlament, den irischen Unterhausabgeordneten in Westminster aber ebenfalls ihre Sitze sichern soll, aber sechs der neun Ulster-Grafschaften (nämlich das heutige Nordirland) von dieser Regelung ausnimmt. Redmond erkennt die Bedeutung dieser Vorschläge, aber er kennt auch Lloyd George, der 1909 im Zusammenhang mit dem umstrittenen Budget jenes Jahres Versprechungen gemacht, aber nicht eingehalten hat. Er möchte Sicherheiten dafür, daß die britische Seite sich an den Handel halten wird, vor allem daran, daß die Lostrennung Ulsters vorübergehend ist. Lloyd George verspricht temperamentvoll, dafür mit seinem Leben einzutreten, mit dieser Zusicherung zu stehen oder zu fallen, Premierminister Asquith halte es ebenso. Die Iren begnügen sich mit dieser mündlichen Zusicherung, eine handschriftliche Niederlegung Redmonds fand sich in dessen nachgelassenen Papieren.

Lloyd George hat auch Carson in einem Brief beschworen: „Die schreckliche Niederlage in der Nordsee (Jütland, Anm. der Red.) macht es notwendiger denn je, bei der Intensivierung des Krieges Irland aus dem Weg zu schaffen. Wir verlieren an allen Fronten, und jetzt kommt noch dieses Omen von der See, wo wir uns alle verhältnismäßig sicher gefühlt haben8.“

Auch von Carson wird Schweres verlangt: Er soll auf drei der neun Grafschaften, die er den Südiren niemals überlassen wollte, verzichten und seine Anhänger für diese Absprache gewinnen. Dafür wird ihm Eigenstaatlichkeit Nordirlands zugesichert — und zwar für immer.

Carson saß mit Lloyd George im Kriegskoalitionskabinett, „er kannte ihn besser als die Nationalistenführer“ (Gallagher) und verlangte Schriftliches. Lloyd George schrieb ihm daraufhin: „Wir haben klarzustellen, daß am Ende der Übergangszeit Ulster nicht, ob es will oder nicht, mit dem Rest von Irland verschmolzen wird'.“

Auf diese Linie ist auch längst Premier Asquith eingeschwenkt — er sichert Carson seinerseits zu, Ulster dürfe „zu keiner Union oder Zusammenarbeit mit dem Süden gezwungen werden10.“

Vor die Wahl gestellt, entweder das Versprechen an Redmond oder das Versprechen an Carson zu brechen, entscheidet sich Lloyd George, mittlerweile selbst Premier, 1921 für ersteres. Dies ließ aber noch die zweitbeste Möglichkeit einer Regelung, nämlich Teilung der Insel, dafür aber totale Unabhängigkeit von England für den Süden, offen. Der Umstand, daß auch dieses Konzept nicht verwirklicht wurde, stürzte den eben gegründeten Freistaat Irland in einen Bürgerkrieg und schuf erst den Nährboden für das Überleben der IRA. Darüber in der nächsten Ausgabe der „Furche“.

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