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Prager Echo in Westminster

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Es ist nicht immer ein erfreuliches Gefühl, wenn man sich dreißig Jahne verjüngt vorkommt. In diesen späten Tagen eines nicht besonders schönen Sommers ist das jedoch vielen Briten der nicht mehr ganz jungen Generation passiert. Bald wird es dreißig Jahre her sein, daß üble Nachrichten aus Prag den schon lange in Gott ruhenden Premier Neuille Chamberlain zu einer Radiorede veranlaßt haben, in der es hieß: „Wie sonderbar, ja wie unsinnig muß es den meisten unter uns vorkommen, daß wir dringend Luftschutzkeller bauen und Gasmasken verteilen müssen, wegen des fernen Streites in einem Lande, von dem wir nichts wissen!“ Einige Tage hin

durch waren die Korrespondenzkolonnen der damaligen Zeitungen mit empörten Leserbriefen voll; wußte Herr Chamberlain wirklich nichts vom Lande Böhmen, seit 1918 Tschechoslowakei genannt?

Neville Chamberlain hat vielleicht wirklich kaum gewußt, wo das Sudetengebirge liegt und wo die Moldau fließt, er hat sich auch nicht mehr erinnert, in welchem Lande der König seiner Jugend, Eduard VII., vergeblich versucht hat,- seine überflüssigen Kilogramm durch eine Marienbader Kur loszuwerden, das traurige Spätsommer- und Herbstmärchen des Jahres 1938 hat dann gewisse Begriffe der Geographie und leider auch der Strategie

den meisten Engländern bald beigebracht, und diese Begriffe blieben 1938, trotz Gasbomben und Flugzeugen, noch gültig, und wahrscheinlich sind sie es noch heute — in den Augen russischer Generalstäbler.

Die Westminster-Debatte

Sir Alec Douglas-Home, einst in seiner Jugend Chamberlains Unterstaatssekretär im Außenministerium von 1938, der vermutlich schon damals über Böhmen mehr gewußt hat als sein Chef, hat im House of Commons als beachtlicher Opposi- tionsredner über Außenpolitik die Unveränderlichkeit gewisser Axiome der Strategie unterstrichen und daraufhin die Frage gestellt, ob die

Atlantischen Verbündeten Pläne haben, gegen solche Absichten der Sowjetmacht, die durch die Besetzung der Tschechoslowakei im August 1968, offenkundig geworden sind.

Wenig rühmlich sprachen dann in der Westminster-Debatte die beiden konservativen Redner, der Oppositionsführer Edward Heath und der frühere Außenminister Selwyn Lloyd. Mit Ausnahme militärischer Hypothesen könne man die Beweggründe dieser Invasion kaum begreifen, noch könne man verstehen, warum sich der tschechische Widerstand weiter gezwungen fühlt, gerade die militärische Bündnistreue von Prag zu betonen.

Böhmens graphische Lage

Eine gewisse „Liberalisierung“ des Wirtschaftssystems der Länder des Ostblocks ging bereits seit Jahren vor sich, die Unhaltbarkeit des Kommunismus in der Praxis hat sich schon lange herausgestellt, die Halbwahrheiten und die Trugschlüsse der marxistischen Analyse haben schon lange nicht mehr genügt, um ein geistiges Leben neuer Art zu schaffen. Eine vergangene historische Periode wiederherzustellen, dürfte zwar niemandem gelingen, aber genau so unmöglich wind es sein, die Weltgeschichte zum Stehen zu bringen und jede weitere Entwicklung aufzuhalten. Die Tschechoslowakei von heute ist gewiß nicht mehr der Staat, den der Sowjetkommunismus 1945 bis 1948 mit seinen alten Methoden in Besitz genommen hat, aber eine militärische Aktion vermag an einer Entwicklung seit fast einer Generation kaum etwas zu ändern, an einer Entwicklung, die übrigens, von manchen Schattierungen abgesehen, in Polen, in Jugoslawien, in Ungarn, in Rumänien seit einigen Jahren sehr ähnlich verlief. Allein die Tatsache

der geographischen Lage Böhmens an der Grenze des Westens dürfte also den Angriff auf Prag begründen.

Die Oppositionsredner Edward Heath, Selwyn Lloyd, Sir Alec Douglas-Home haben im wesentlichen diese Erkenntnis zum Ausdruck gebracht und hinzugefügt, daß nach diesem Ereignis eine engere Zusammenarbeit mit Westeuropa für Großbritannien eine dringende Notwendigkeit geworden sei.

Gordon Shephards Ukrainethese

Dies ist ebenfalls der Grundton der konservativen Presse, besonders vom „Daily Telegraph“ und „Sunday Telegraph“. In der letzteren Zeitung setzt der diplomatische Korrespondent Gordon Shephard hinzu — eine Information, die Beachtung verdient —, daß die zunehmende ukrainische Bewegung innerhalb der Sowjetunion ein Grund für die Aktion gegen die Tschechoslowakei sein dürfte. Man konnte durch viele Jahre die ukrainischen Nationalbestrebungen vernachlässigen. Sie

waren in Kiew und in der russischen Ukraine nie besonders stark. Seit aber Ostgalizien, die Bukowina, Bessarabien und das einst ungarische, nachher tschechoslowakische „Karpatho-Rus“ von der Sowjetunion annektiert wurden, hat Rußland auch eine durchaus nicht russisch oder „sowjetisch“ fühlende, entschieden separatistisch geneigte Bevölkerung, deren Gefühle in der autonomen Republik Ukraine vielfachen Widerhall finden und beson

ders in der literarischen Opposition von Kiew, die die ähnliche Opposition in Moskau und Leningrad noch weit übertreffen soll.

Nun liegt die Südwestgrenze dieser Ukraine an der oberen Theiß, die „autonome Sowjetrepublik“ Ukraine ist kaum von der Slowakei trennbar, und ein neuer Kurs der Politik in der Slowakei würde ihre Wirkung bis Lwow, Cemowitz, vielleicht sogar bis Kischinew und Kiew haben. „Freie Ukrainer“, die in England eine recht aktive Organisation haben, wollen dieser Deutung der letzten Ereignisse Glauben schenken, der diplomatische Korrespondent einer großen Londoner Zeitung hat aber wohl seine Kenntnisse aus anderen Quellen geschöpft.

De Gaulles Voraussicht

In einem anderen, neuen Licht wird nach den letzten Ereignissen von Prag die Politik von General de Gaulle vielen Engländern erscheinen. Der Präsident von Frankreich hat die Atlantische Bündnisorganisation schon lange veraltet gefunden, und dieser Kritik stimmen zur Zeit Engländer von Kompetenz bei, wie das die Westminster-Debatte gezeigt hat, anderseits scheint de Gaulle gerechtfertigt zu sein mit seiner Hoffnung, daß die „Blocksysteme“ nicht allzu solide seien und besonders im Osten von inneren

Kräften des ecnten, aatemigewurzei- ten Nationalgefühls gebrochen werden mögen. Der General hat dies von Polen und Rumänien erwartet, der Fall ist in der Tschechoslowakei eingetreten, dies ändert aber kaum etwas an der Tatsache, daß er den Hauptzug der Entwicklung richtig beurteilt hatte.

Die Stellungnahme der Labour-Politiker

Die Wendung in Prag hat freilich auch die Labour-Regierung und besonders solche Labour-Politiker von

Stand, wie Emmanuel Shinwell und George Brown, die der Regierung nicht angehören, zur Stellungnahme veranlaßt. Im Grunde war diese Stellungnahme von jener der Konservativen und von jener der kleinen liberalen Partei, geführt von Jeremy Thorpe, nicht verschieden. Höchstens wurde von dieser Seite mit etwas, mehr Nachdruck betont, daß Sanktionen — welcher Art auch immer — gegen die Sowjetunion nichts nützen würden, danach hat aber auch niemand in Westminster oder in der Presse verlangt.

Individuen und sogar Gruppen haben schon bei manchen Wendungen der Sowjetpolitik die kommunistischen Parteien Westeuropas verlassen, diesmal scheint aber der Kommunismus Moskauer Färbung endgültig abzudanken, was auch „Fortschrittsparteien“ in Westeuropa neue, bisher unerprobte Wege öffnet. Das es das „Moskowitertum“, das zwar in England nie eine irgendwie ernst zu nehmende Partei gründen konnte, aber manche Intellektuelle stark anzog und noch dazu hinter den Kulissen eine gewisse Rolle in manchen Gewerkschaften spielte, zur Zeit nicht mehr gibt und in der Zukunft nicht mehr geben wird (auch vielleicht nicht mehr als Vorwand zum Verrat aus Gesinnungsgründen) mag manche alten Kämpfer der Labour-Bewegung mit Genugtuung erfüllen.

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