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„Emigrant“ Irland

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EHE DAS ZEITALTER DER NONSTOPFLUGE über den Atlantik anbrach, bildete Irland, Europas westlichster Vorposten, für den transozeanischen Flugverkehr einen wichtigen Stützpunkt. Der als großes Wirtschaftszentrum ausgabaute Shannon-Airport war nicht nur bedeutender Handelsplatz, sondern symbolisierte jene Rolle, die der „Smiaragdinsel“ kraft geographischer Lage und historischer Entwicklung eigen ist: Europa zugehörig und durch zahlreiche Berührungspunkte historischer und kultureller Art diesem Kontinent verbunden, ist Irlands zweites Gesicht seit Jahrhunderten der Perne zugekehrt, der Neuen Welt.

Die Insel — flächenmäßig ungefähr Österreich vergleichbar — zählt heute rund 4,5 Millionen Bewohner. Zwei Drittel davon siedeln in der freien Republik Eire, das restliche Drittel bewohnt jene sechs Grafschaften, die als „Nordirland“ noch heute der britischen Krone untertan sind.

Jährlich wandern ungefähr 20.000 Iren aus. Und obwohl Irland einen ansehnlichen Geburtenüberschuß (Geburtenrate 22!) aufzuweisen hat, kann, es diesen steten Aderlaß kaum verkraften: Bei annähernd 62.000 Geburten pro Jahr und rund 34.000 Todesfällen egalisiert die permanente Aiuswanderungsquote den Uberschuß fast vollständig, so daß die Bevälkerung'szahl stagniert.

Als traditionelles Agrarland — wenngleich nur knapp ein Sechstel des Bodens der Republik Eire als Ackerland nutzbar ist — verfügt Irland über relativ bescheidene Industrien. Die Regierung in Dublin unternimmt große Anstrengungen, um die Industrialisierung voranzu- tredben und fördert daher auch ausländische Firmen bei Betrtiebsgrün- dungen in Irland.

Kleine landwirtschaftliche Betriebe, das Fehlen jeglicher Forstwirtschaft —• seit englische Landlords Irlands Wälder bedenkenlos abholzten, besteht nur ein Vierzigstel der Fläche aus Wald — Schafzucht und Weidewirtschaft vermochten niemals genügend Nahrungsmittel schaffen. Daß überdies die Auswanderung in Irland schon jahrhundertealte Tradition hat, mag die „Inselflucht“ noch verstärken: Es gibt wohl kaum eine Familie auf der Insel, die nicht irgendwo jenseits des Ozeans Angehörige besäße, und nur wenigen jungen Iren wird nicht ein Onkel oder Bruder, der in der Neuen Welt angeblich sein „Glück“ gefunden, nachahmenswertes Vorbild sein...

Irlands Geschichte freilich hat engste Beziehungen zur „Alten Welt“, zum europäischen Festland.

KRISTALLISATIONSPUNKT IRISCHEN Staats- und Geschichtsbewußtseins ist das Jahr 432, als Papst Zölestin den Missionar Sankt Patrick — der Abstammung nach wohl ein Bewohner einer der Westprovinzen des Imperium Romamium .— nach Irland entsandte. Patrick, in früher Kindheit einst als Geisel in Irland gewesen, durchwanderte als Prediger jahrelang die Insel, gründete eine Vielzahl von Klöstern und Schulen und bekehrte die Mehrzahl der keltischen Inselbewohner zum Christentum.

Die vorchristliche Nationalkultur war von beachtlicher Höhe, die in Intervallen von drei Jahren staittfin- demden „Nationalversammlungen", die der „King of High" von Tara jeweils einibeiief, waren nicht nur erste Ansätze demokratisch-gesetzgebender Versammlungen, sondern erinnern an die Olympischen Spiele der Griechen oder die Spiele von Korinth.

Als Patrick gegen Ende des fünften Jahrhunderts starb, gab es in Irland nicht nur ein blühendes Christentum, sondern auch eine Blüte der irischen Kultur. Gelehrten schulen — etwa in Banigor, OLanard und Cikxnfert — mit jeweils bis zu 3000 Schülern, die in Theologie, Philosophie, Musik, Rechtswissenschaft und Literatur unterrichtet wurden, gehörten ebenso dazu wie die an die „Sängerkriege“ des europäischen Mittelalters gemahnenden Musik- und Literaturwettbewerbe.

Seit den Tagen des ersten King of High besaß die Insel sowohl eine einheitliche Sozdaistruktur als auch ein gemeinsames Recht.

Während Barbarenhorden über das Festland zogen und die Brandfackel .in spätrömiische Klöster und Kulturzentren warfen, während Waffengeklirr und stampfende Hufe die frühchristliche Kultur auf dem Kontinent zerstörten, erlebte Irland sein „Goldenes Zeitalter“. In Klöstern wie Durrow und Keils entstanden illuminierte Handschriften — das Buch van Keils etwa, ein Evangeliar des 8. Jahrhunderts, das heute als eines der schönsten Werke der Buchmalerei gilt. Halbversunkene Ruinen zeugen davon, welch großartige Sakralbauten damals entstanden. Entfernt unserer Romanik verwandt, war der Baustil doch unverwechselbar eigenständig, irisch.

„ROMANTIC IRELAND’S DEAD AND GONE...“, wird 1000 Jahre später Irlands großer Dichter William Butler Yeats klagen. War unmittelbarer Anlaß für Yeats’ Klagelied die nationale Verzweiflung über das Fehlschlagen der Unabhängigkeitsbemühungen, so ist doch die Melancholie und Schwermut irischer Dichtung ebenso alt wie das Pathos irischer Freiheitslieder. Das Wissen um die Epoche des „goldenen Zeitalters“ ist konfrontiert mit der bitteren Erkenntnis einer an Hoffnung armen Gegenwart, der Stolz auf die große Vergangenheit steht dem Ein- bekenmtnis der Ohnmacht seit Jahrhunderten gegenüber. Rückwärts gewandt im Stolz — nach vorne blik- kend in Tatendrang — steht Irland in einer Gegenwart, die seit Jahrhunderten reich an Entbehrungen und Enttäuschungen war, doch arm an Erfolgen.

Es ist nicht ohne Tragik, daß der Zusammenbruch der eigenständigen irischen Hochbultur zum gleichen Zeitpunkt erfolgte, da auf dem Kontinent jene Saat Wurzeln schlug die von irischen Mönchen einst auf den Ruinen eines untergegangenen Kulturgefüges gestreut worden war. Von irischen Klöstern wie Rosscarberry zogen Glaubens- und Kulburboten wie Gallus und Columbam aus und verkündeten das Evangelium auf dem Kontinent: in Köln, Straßbürg, Nürnberg, Freising, Erfurt, St. Gallen, Duxeuii, Kiew — insgesamt über 70 Gründungen gehen auf sie zurück. Gründungen, die zu neuen Mittel-

punkten christlichen und kulturellen Lebens wurden. Als dann aber über Europa die Periode der Karolingischen Blüte heraufzudämmem begann, kam über Irland die Katastrophe: Die Wakingerinvasion als

Auftakt der mehr denn tausendjährigen Fremdherrschaft.

Irlands Landschaft ist ungemein reich an Vielfalt und Abwechslung. Sanfte Küstenstriche wechseln mit schroffen Riffen, grüne Fluren mit Mooren, weite Täler mit unwegsamen Wildnissen, blaue Seen mit unwirtlichen Tainiederungen, üppiges Grün mit kargem, schmutzigem Braun. Und efeuüberwucherte Überreste aus glanzvollen Tagen, halbverfallene Ruinen einstmals prächtiger Kultstätten stehen in Gegensatz zu den augenscheinlichen Anzeichen drückender Armut.

Wie kaum ein anderes Volk sind auch die Iren voller Gegensätze: heiter und gesellig — doch mitunter aufbrausend und leidenschaftlich; ungemein gastfreundlich und redselig — und gleich wiederum verschlossen, hart, mißtrauisch; voll tiefer Gläubigkeit und Frömmigkeit — und doch mitunter dem Aberglauben zugekebrt; bescheiden und demütig — doch von einem unglaublich starken National stolz beseelt.

IRLAND WÄRE NICHT IRLAND, wäre seine Landschaft nicht voller Gegensätze. Und die Iren wären nicht Iren, würde sich in ihnen nicht soviel Gegensätzliches und Wider- streitendes harmonisch vereinigen. Mit beiden Beinen auf dem Boden einer nicht immer freundlichen Gegenwart stehend, den Bück in gläubigem Optimismus einer bestseren Zukunft zugewandt, kehrt Irland doch stets von neuem sein anderes Gesicht der Vergangenheit zu. Ein- gesponnen in Sagen und Legenden ist das Vergangene stets gegenwärtig. Und nicht zuletzt daraus schöpfte das irische Volk wohl auch jene unglaubliche Kraft, die trotz tausendjähriger Fremdherrschaft das Eigentümliche, das Bewußtsein nationaler Eigenständigkeit, am Leben erhielt.

Nur für kurze Zeit konnte Irlands Volk nach der Wikingerinvasnon noch einmal die Unabhängigkeit zurückerflanigen; nach der Eroberung Irlands durch die Anglo-Normannen aber (1170) wechselten lediglich die Herren — die Unterdrückten blieben stets dieselben: Dänen, Schotten, Norweger und Engländer strömten ins Land und schwangen sich zu Grundherren auf. Die Iren wurden Fronbauern...

Revolutionen gab es in jedem Jahrhundert — dauerhafter Erfolg aber war ihnen nie beschieden, und die Namen der Anführer, wie Hugh O’NeiLl, „Fheläm, der Brenner“, oder die „Wilügänse“, Irlands ehemaliger Landadel, der die Sache der Jacobi- ten vertrat, blieben verknüpft mit der Erinnerung an Niederlagen.

Nicht zuletzt diese Aufstände waren es auch, die immer wieder tausende Iren zur Emigration zwangen. Zunächst nach Europa, später nach Amerika. Vor allem mit Einsetzen der blutigen Katholikenverfolgungen wuchs diese Emdgratioms- welle sprunghaft an.

Zunächst als Dominion anerkannt, wurde Irland 1948 Republik und löste sich aus dem Verband des Commonwealth«. Gemeinsam mit Österreich wurde es 1955 in die UNO aufgenommen und damit endgültig als souveräner Staat anerkannt.

DER GEGENSATZ ZWISCHEN ENGLISCHER Herrschaft und irischen Untertanen ist verschwunden, die Gegensätzlichkeiten im irisdien Nationalcharakter aber blieben erhalten. Und ebenso die heimliche Sehnsucht nach dem „goldenen Zeitalter“, nach der großen Vergangenheit. Sie bricht sich Bahn in ver träumtem Zurückschweifen, in phan- tasievoller irischer Lyrik. Die alten gälisehen Lieder, die von Liebe künden und doch voll Wehmut klingen, sind dafür eindrucksvolle Zeugnisse.

Ist es ein Zufall, daß ein Volk wie dąs irische viele Dichter hervorbrachte? Namen wie Yeats und O’Connor, Wilde und Swift, Goldsmith, Pearse und O’Casey, wie Sheridan und Synge, O’Flaherty und Jahnston erhielten internationalen Klang. Vom Spötter G. B. Shaw nicht zu sprechen, und auch von Samuel Reckett nicht, der beute freilich ebenfalls „Emigrant“ ist.

An Gegensätzlichkeiten ist nicht nur Irlands Geschichte überreich — auch die Gegenwart ist voll von ihnen. Der Volkscharakter, der Alltag, die wirtschaftliche Struktur des Landes...

Ausgerechnet jene Straße, in der ein monumentales Nelson-Standbild von Englands Herrschaft kündete (bis es vor Jahresfrist gesprengt wurde), trägt den Namen des Fred- hedtshelden O’Connell. Und nahezu gleichzeitig, als erstmals ein Katholik irischer Abstammung Amerikas Präsident wurde, bewarb sich die Republik Eire um die Mitgliedschaft bei der EWG. Denn — wie die Re gierung in Dublin damals erklärte: „Irlands Volk hat sich seit eh und je Europa zugehörig gefühlt und wünscht ein starkes und vereinigtes Europa.“ Obwohl in Amerika heute mehr Iren wohnen als in Iriand...

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