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Irlands Erfahrung

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Die irische Wirtschaftslage ist schlecht wie nie zuvor in der Geschichte der Republik. Entsprechend groß ist das Desinteresse an den Brüsseler Binnenmarkt-Ambitionen.

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Die irische Wirtschaftslage ist schlecht wie nie zuvor in der Geschichte der Republik. Entsprechend groß ist das Desinteresse an den Brüsseler Binnenmarkt-Ambitionen.

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Hervorstechendstes Charakteristikum der meisten Helden in „Ulysses“, dem Epos des großen irischen Schriftstellers James Joyce, ist ihr permanenter Geldmangel. Dieses Werk beschreibt die Zeit knapp nach der Jahrhundertwende. Heute geht es den meisten Iren nicht besser. Trotz EG-Mitgliedschaft. (Oder vielleicht gerade deswegen?)

Im Frühjahr 1987 haben sich die irischen Bürger mit relativ großer Mehrheit in einer Volksabstimmung für eine engere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der EG ausgesprochen und damit grünes Licht für die Ratifizierung der europäischen Akte durch das Dubliner Parlament gegeben. Das Referendum war notwendig geworden, weil der Oberste Irische Gerichtshof

Teile der Akte für verfassungswidrig erklärt hatte, nämlich diejenigen, in denen die Verpflichtung zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik niedergelegt wird. Die Verfassung verpflichtet die Regierung jedoch zu Neutralität.

Wegen der Parallelen zum österreichischen Fall hierzu einige Bemerkungen vorweg: Der Charakter der österreichischen Neutralität ist prinzipiell ein anderer als derjenige der irischen. Unsere Neutralität ist als eine immerwährende definiert, während die irische von Fall zu Fall festgelegt werden kann. Ferner bezieht sich Österreichs Neutralität in erster Linie auf die Ost-West-Beziehungen. Irlands Neutralität hat damit überhaupt nichts zu tun. Sie soll vielmehr ausdrücken, daß sich das Land an die Politik seiner ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien in keiner Weise gebunden fühlt (zum Beispiel keine Unterstützung im Falkland-Krieg). In Ost-West-Auseinandersetzungen ist Irland hingegen nicht neutral. Bei den KSZE-Verhandlungen etwa sitzt das Land nicht mit Schweden, Schweiz, Finnland und Österreich bei den Neutralen und Blockfreien, sondern im Westblock.

Für die Annahme der europäischen Akte sprachen sich beim

Referendum knapp 70 Prozent der Wähler aus, die Wahlbeteiligung war allerdings mit 45 Prozent sehr gering. Die größte Unterstützung kam von den Landwirten, die die glühendsten „Europäer“ der Republik sind. Irland ist auch mehr als die meisten anderen EG-Länder von der Agrarwirtschaft abhängig und hat deswegen besonders vom System der garantierten Festpreise für Agrarprodukte profitiert.

Ein weiterer Pluspunkt ist, daß Irland in hohem Umfang Nettoempfänger von Regionalhilfen aus Brüssel ist. Darüber hinaus war und ist Irlands EG-Mitgliedschaft Hauptmotiv für viele ausländische Unternehmen, sich mit einer Produktionsstätte niederzulassen. Auslandsfirmen beschäftigen fast hunderttausend Arbeiter und Angestellte und bilden das Rückgrat für Manufaktur und Exporte.

Die irischen Beziehungen zur EG müssen ferner noch unter einem besonderen Gesichtspunkt gesehen werden, nämlich auch als Versuch, sich von Großbritannien zu emanzipieren und international zu profilieren

Nur unter diesen Gesichtspunkten ist auch der positive Ausgang des erwähnten Referendums überhaupt zu verstehen, denn ansonsten wird die Bilanz von 15 Jahren Beziehungen Irlands mit der EG (seit 1973) von vielen Beobachtern sehr negativ beurteilt.

Das Dubliner Forschungsinstitut für Wirtschafts- und Sozialfragen konstatiert emotionslos: „Die gegenwärtige Wirtschaftslage Irlands ist schlechter als je zuvor in der Geschichte der Republik.“ Steuern, Auslandsschulden, Arbeitslosenquote und Kriminalitätsrate hätten eine noch nie dagewesene Höhe erreicht. Die Auswanderungsquote sei wieder so hoch wie in den dunkelsten Zeiten der irischen Geschichte.

All das sind keine Gespinste böswilliger EG-Gegner, sondern, harte Statistiken. Die Auslandsschulden betragen mehr als zehn Milliarden Dollar, womit Irland — wenn man die Verschuldung pro Kopf der Bevölkerung berechnet — zu den höchst verschuldeten Ländern zählt. Mehr als zehn Prozent des Bruttosozialprodukts sind jährlich für Zinsen und Tilgung aufzuwenden.

Auswanderungswelle

Die Arbeitslosenquote lag im Sommer 1988 bei 18,5 Prozent. Im Durchschnitt des Jahres 1975 etwa, also zwei Jahre nach dem EG-Beitritt, betrug sie 8,3 Prozent. Diese Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sowie hohe Steuern veranlassen viele Iren, das Land zu verlassen. Uber 40.000, das sind etwa ein Prozent der Bevölkerung, kehren jedes Jahr ihrem Land den Rücken.

Auch bei den Hoffnungen auf Preisstabilität mußte erst eine sehr lange Durststrecke überwunden werden, ehe sich erste Erfolge zeigten. In den ersten Jahren nach dem Beitritt beschleunigte die Inflation — sicherlich auch als Folge der damaligen ölpreiserhö-hungen - auf über 20 Prozent pro Jahr, konnte von den zweistelligen Geldentwertungsraten aber erst seit 1984 wieder losgelöst werden und erreicht 1987 3,2 Prozent.

Die industrielle Produktion verzeichnet auch einen scharfen Rückgang, wofür selbst viele Vertreter der Industrie den EG-Beitritt verantwortlich machen. Vor dem Beitritt war dieser Sektor mit staatlichen Subventionen vor Importen geschützt, weil überhaupt erst seit der Republiksgründung im Jahre 1922 mühsam eine gewerbliche Produktion hochgezogen werden mußte. Doch auch Anfang der siebziger Jahre war die Industrie noch nicht wirklich international konkurrenzfähig. Die damalige Regierung hoffte zwar, daß ausländische Investoren in hohem Umfang bessere Technologie und Arbeitsplätze bringen würden. Diese Entwicklung trat aber nicht ein. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie fiel bis 1982 um vier Prozent. Das durchschnittliche Wachstum des Produktionsvolumens betrug lediglich drei Prozent gegenüber noch sechs Prozent in den zehn Jahren vor dem EG-Beitritt. Zwar werden heute siebzig Prozent der irischen Exportgüter von diesen Unternehmen hergestellt, doch beschäftigen sie nur 25 Prozent der Industriearbeiter, und diese sind großteils angelernte und ungelernte Kräfte für hoch automatisierte Fabriken. Darüber hinaus ist der anfängliche Vorteil Irlands als Standort mit billigen Arbeitskräften durch die Beitritte von Griechenland, Spanien und Portugal verlorengegangen.

Die Mehrheit der Bevölkerung Irlands will zwar heute nicht aus der EG austreten, aber die Aussicht auf mögliche engere Kooperation stößt auf Desinteresse und Unverständnis.

Die in Österreich häufig getroffene lapidare Feststellung: „Irland hat mit dem EG-Beitritt gute Erfahrungen gemacht“, kann jedenfalls nicht widerspruchslos hingenommen werden.

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