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Euphorie am Bosporus

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Die Türkei sucht den Weg nach Europa. Ihr Beitrittsansuchen in die EG findet aber wenig Gegenliebe. Das Land am Bosporus wird als „noch nicht europareif“ qualifiziert.

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Die Türkei sucht den Weg nach Europa. Ihr Beitrittsansuchen in die EG findet aber wenig Gegenliebe. Das Land am Bosporus wird als „noch nicht europareif“ qualifiziert.

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„Die Zukunft der Türkei ist an Europa gebunden.“ Mit diesen Worten des für EG-Angelegen- heiten zuständigen Staatsministers der türkischen Regierung, Professor Ali Bozer, läßt sich am besten die in der Türkei vorherrschende Stimmung beschreiben, als das offizielle Beitrittsansuchen zur Europäischen Gemeinschaft am 14. April dieses Jahres in Brüssel, überreicht wurde. In Anbetracht der wechselvollen Beziehungen der mit der EG seit über 24 Jahren assoziierten Tür-

kei, war es durchaus angemessen, daß der türkische Minister diesen Akt als einen für sein Land „ feierlichen und historischen Augenblick“ bezeichnete.

In seltener Übereinstimmung wurde dieser Schritt der Regierung in Ankara von allen Parteien, der Wirtschaft ebenso wie von den Gewerkschaften begrüßt und gutgeheißen. Ministerpräsident Ozai stellte zwar fest, daß die, wie zu erwarten, über viele Jahre erstreckenden Beitrittsverhandlungen eine lange, schwierige Gratwanderung sein werden, zeigte sich aber hinsichtlich der Erreichung der Vollmitgliedschaft durchaus optimistisch und überzeugt.

Daß das Begehren der Türkei auf Vollmitgliedschaft heute bei der Mehrheit der EG-Mitglieder auf Ablehnung stößt, ist nicht nur auf die zwischenzeitlich erfolgte Ausweitung der ursprünglichen Wirtschaftsgemeinschaft, sondern vor allem auf die gegenüber den sechziger Jahren wesentlich veränderte internationale Wirtschafts- und Wettbewerbslage zurückzuführen.

Zunächst wird in diesem Zusammenhang stets auf das niedrige Pro-Kopf-Volkseinkommen der Türkei, das mit etwas über 1.000 US-Dollar wesentlich unter dem der ärmsten EG-Mitglieds-

staaten liegt, hingewiesen. Dem wird türkischerseits entgegengehalten, daß dies eine zu einseitige Betrachtungsweise ‘ darstelle. Entscheidend sei vielmehr, daß das allgemeine Preisniveau, die Kaufkraft und die absolute Größe des Bruttonationalprodukts eines Landes in bezug gebracht werden. In diesem Fall würde die Türkei keineswegs schlechter dastehen als die jüngsten EG-Mitglieder Portugal und Griechenland.

Das Argument, die Türkei hatte ihre Verpflichtungen in bezug auf den Zollabbau und Schaffung eines gemeinsamen Außentarifs aufgrund der bestehenden Wirtschafts- und Zahlungsbilanzschwierigkeiten nicht erfüllen können, wird grundsätzlich anerkannt. Gleichzeitig werden aber der EG im Gegenzug die protektionistischen Einfuhrbeschränkungen für türkische Textilien und Agrarprodukte, Nichterfüllung des IV. Finanzprotokolls und vor allem die nicht termingemäße Inkraftsetzung der Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer vorgeworfen.

Als Beweis, daß die Wirtschaft der Türkei auch nach vollständiger Öffnung des Marktes durchaus in der Lage ist, in einem echten internationalen Wettbewerb zu bestehen, wird die dynamische Entwicklung der Ausfuhren seit 1980, vor allem auch in den OECD- beziehungsweise EG-Raum, angeführt. Tatsächlich sind die OECD und EG als Ländergruppen mit einem Anteil von 58 Prozent bzw. 44 Prozent vor den islamischen Ländern mit 35 Prozent und Osteuropa mit 4,2 Prozent schon jetzt die wichtigsten Abnehmer türkischer Waren. Daß sich das türkische Handels- passivum gegenüber der EG von

762 Millionen US-Dollar im Jahre 1985 auf 1,3 Milliarden US-Dollar im Vorjahr fast verdoppelt hat, wird auf die protektionistische Einfuhrpolitik der EG und die Kontingentierung türkischer Agrarprodukte und Textilien sowie Eisen- und Stahllieferungen zurückgeführt.

Eine Untersuchung der Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute, TUSIAD, hat ergeben, daß 75 Prozent aller Industrieunternehmen der Türkei, vor allem die Großfirmen, die durchwegs eine gute Organisationsstruktur und modernes Management besitzen, europareif und international wettbewerbsfähig sind. Im Falle einer Integration würden sofort umfangreiche Neuinvestitionen zur Strukturverbesserung und Erhöhung der Produktion getätigt werden. Nur die Klein- und Mittelbetriebe müssen einen schmerzlichen Ausscheidungsprozeß durchlaufen.

In der besonders heiklen Frage der Freizügigkeit von türkischen Arbeitnehmern ist die Türkei bemüht, die Befürchtungen der EG- Mitglieder, vor allem der BRD, Frankreichs und Hollands, abzubauen. Hier wird vor allem argumentiert, daß der Türke im Hinblick auf seine traditionell engen Bindungen zur Heimat mit dem gewohnten Kulturkreis und der Umgebung, einen Arbeitsplatz im Inland bevorzugt. Bei einer Integration mit der EG würden in der Türkei mehr ausländische Direktinvestitionen erfolgen, wodurch zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen werden und die Abwanderung aus Arbeitsgründen ins Ausland nicht im gleichen Ausmaß wie bisher notwendig sein wird.

Wie immer man zu all diesen Argumenten für und wider einer EG-Vollmitgliedschaft stehen mag, die Türkei hat zunächst ihre Präferenz zu erkennen gegeben und sich entschieden.

Der Autor ist österreichischer Handelsdelegierter in Ankara.

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