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Europa - Traum oder Alptraum?

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Lothar Späth hat auf der Frankfurter Buchmesse seinen Traum von Europa vorgelegt: Schuberts „Unvollendete“, nicht Beethovens Ode „An die Freude“ gibt dafür die Hintergrundmusik ab.

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Lothar Späth hat auf der Frankfurter Buchmesse seinen Traum von Europa vorgelegt: Schuberts „Unvollendete“, nicht Beethovens Ode „An die Freude“ gibt dafür die Hintergrundmusik ab.

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FURCHE: Kommt Österreich in Ihrem Buch nicht nur in Form von Tirol und LKWs, sondern auch als EG-Beitrittskandidat vor?

LOTHAR SPÄTH: Ich habe mich mit der Frage der EFTA-Länder insgesamt beschäftigt. Ich glaube, wenn Österreich entscheidet, zur EG zu kommen, ist das in Ordnung.

Ich weise aber in dem Buch auf ein Grundproblem hin. Wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa wollen, dann dürfen wir diese europäische Seite nicht gewissermaßen neutral öffnen. Jeder, der jetzt Europa beitritt, sollte wissen, daß er einer politischen Gemeinschaft beitritt und nicht nur einer Wirtschaftsgemeinschaft.

FURCHE: Sie haben hier in Frankfurt davon gesprochen, daß sich die EG eventuell ein Stück nach Osten ausdehnen könnte. Wie anders als unter den Auspizien einer Neutralität könnte das geschehen? Könnten die DDR, Polen oder Ungarn in ein westliches Verteidigungsbündnis eintreten?

SPÄTH: Könnten sie sicher nicht. Die Dinge sind so umwälzend, daß man dafür Formen finden muß, wenn sich beispielsweise der europäische Raum überhaupt nicht mehr in West und Ost einteilen läßt.

FURCHE: Steht das nicht vor der Tür?

SPÄTH: Ich schließe es nicht aus. Ich gehöre zu den Skeptikern, für die die Öffnung im Osten noch nicht gelaufen ist. Sehr optimistisch bin ich, was Ungarn betrifft. Mit großer Unterstützung sehe ich die Entwicklung in Polen. In der Frage der DDR bin ich noch skeptischer als die meisten meiner Landsleute.

In der Sowjetunion sehe ich Riesenprobleme auf Gorbatschow zukommen. Aber nehmen wir einmal an, dieser Reformzug bewegt sich so, dann gibt es eine große Chance, einen europäischen Entwurf zu wagen. Dann spielen diese Fragen sicher keine Rolle.

FURCHE: Jeder ist jetzt bei Ungarn optimistisch. Aber es ist ja unvorstellbar, daß Ungarnineinwest-liches Verteidigungsbündnis eintritt. Da müßte irgendeine Form

von Neutralisierung her.

SPÄTH: Wenn wir die politische Entwicklung langfristig betrachten, dann könnte es sein, daß wir auch unterhalb der zwölfer Grenze der jetzigen EG eine erste Stufe einer engen politischen Gemeinschaft bekommen, die dann zuläßt, daß im übrigen die EG geöffnet wird für all diese Vorbehalte, die jetzt von den EFTA-Staäten angemeldet werden, oder auch zum Beispiel von osteuropäischen Staaten mit ihrem Akzeptanzverlangen verbunden werden. Das wäre der eine Weg.

Der andere Weg wäre, daß sich die Zwölf alle einigen und dann die Spielregeln festlegen, indem sie entweder einen zweiten Kreis öffnen oder integrieren.

FURCHE: Ist das so zu verstehen, daß man alles vergessen kann, was über Österreich und den EG-Beitritt im Augenblick gesprochen wird, weil Europa durch die Situation im Osten heute einfach in eine völlig neue Phase eintritt, in der Bedingungen und Beitrittsmodalitäten neu definiert werden müssen?

SPÄTH: Ohne Zweifel kann man sagen, daß wir im Grunde alle EFTA-Staa-ten in den wirtschaftlichen Öff-nungskreis aufnehmen können. Das läßt sich genausogut mit einem Freihandelsabkommen mit allen EFTA-Staaten lösen. Mein eigentliches Hauptanliegen ist, daß wir natürlich schon die politischen Konzepte überprüf en müssen im Hinblick auf die aktuelle Situation, das heißt die Frage, inwieweit wir

die politische Einigung Europas im Westen stufen, mit welchen Partnern wir sie voranbringen können, ohne unlösbare Konflikte auszulösen.

FURCHE: Es war ein Hauptvorbehalt gegenüber Österreich, daß es in den Freihandel will, die eigentlich politischen Dinge in der EG aber nicht so sehr.

SPÄTH: Probleme haben wir nicht nur mit den Österreichern, auch mit der Schweiz und mit Skandinavien. Wir müssen sagen, wer die Vorteile des großen Marktes will, muß auch am Burdensha-ring beteiligt sein.

Wir stellen uns alle darauf ein innerhalb der EG, daß zum Beispiel die starken Industrieländer wie die Bundesrepublik Deutschland gewaltige regionale Aufhollasten tragen müssen - zum Beispiel für die schwachen Regionen in Südeuropa. Wer natürlich die Vorteile des Marktes in Anspruch nehmen will, der muß auch etwas mitfinanzieren

bei der Lösung der regionalen Strukturprobleme.

FURCHE: Eine andere Frage: Sie gehören nicht zu den Leuten, die eine Verbindung zwischen dem Durchfahrtsrecht durch Tirol und dem EG-Beitritt Österreichs herstellen wollen. Kann man das vollkommen entkoppeln?

SPÄTH: Was sich in Tirol abspielt, ist eine Verantwortung, die wir gemeinsam sehen müssen. Wir können nicht die Tiroler mit ihrem Widerstand dafür verantwortlich machen, was wir uns selber eingebrockt haben, indem wir - ohne das Verkehrssystem Europas zu durchdenken - die Verkehrslast durch die großen arbeitsteiligen Entwicklungen in Europa erhöht haben. Jetzt müssen wir mit Tirol darüber reden, wie wir das Problem lösen können.

FURCHE: Könnte nicht ein solcher Engpaß in Europa, wie ihn Tirol heute darstellt, sogar eine Provokation für die EG darstellen, ihre ganzes innereuropäisches Verkehrssystem mit seinem ungeheuren Leerlauf etwas zu überdenken?

SPÄTH: Wir können nicht nur einerseits verlangen, daß diejenigen, die die EG und die europäischen Vorteile wollen, auch zu Lasten beitragen, und andererseits dies aufheben, indem wir durch Durchfahrtssysteme einer kleinen Gruppe der europäischen Bevölkerung alle Lasten zumuten, weil wir unsere eigene Verantwortung nicht wahrgenommen haben, nämlich das Verkehrskonzept genügend durchzudenken.

FURCHE: Starke Kräfte in der Bundesrepublik wollen jedenfalls diese Verbindung von Durchfahrtsrecht und EG-Beitritt.

SPÄTH: Von der Bundesrepublik erwartet man natürlich eine Lösung der Transitproblematik. Aber man darf hier keine kurzfristige Aggression nach dem Prinzip entwickeln: wer uns nicht durchfahren läßt, darf nicht nach Europa. So einfach geht Politik nicht.

Mit Lothar Späth, Autor des Buches: 1992 -DER TRAUM VON EUROPA. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1989.383 Seiten, öS 249,60, sprach Hellmut Butterweck.

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