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Ein Europa der Schrebergärten"

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Mitte der fünfziger Jahre glaubten die Europa-Begeisterten an eine mächtige Zentralgewalt, die schon bald supranational als europäische Bundesregierung über die einzelnen Gliedstaaten herrschen werde: nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika. Das vorläufige Ergebnis dieses Traums ist die Europäische Gemeinschaft, ist die EG (s. „Stichwort" S.2).

Und dieser Traum ist in 25 Jahren Alltag geworden als ein Europa der Schrebergärten, ein Zustand, den Jean Monet und Robert Schuman mit ihrer Vision von einem politisch und wirtschaftlich einigen Europa überwinden wollten. Mitte der fünfziger Jahre sollten Grenzbäume stürzen, im Frühjahr 1982 befürworten laut einer Meinungsumfrage 60 Prozent der Briten den Austritt aus der EG.

Dennoch haben zunächst die EWG und später die EG jedenfalls die Hälfte ihrer Ziele erreicht: die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, den wirtschaftlichen Aufstieg der Mitgliedstaaten aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs (mit nur 6 Prozent der Weltbevölkerung verfügt die EG über mehr als 20 Prozent des weltweiten Sozialprodukts und über 40 Prozent am Welthandel), einen gemeinsamen Markt für Arbeitskräfte und zahlreiche Produkte, vorbildliche Handelsabkommen mit fast 60 Staaten der Erde und den höchsten Anteil an der weltweiten Entwicklungshilfe (45 Prozent davon stammen aus der EG).

Wenn das heute unterschätzt wird, so hat das mit mehreren Faktoren zu tun: die politische Koordination zwischen den Mitgliedstaaten ist ebensowenig gelungen wie der Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die ökonomische Koordinierung ist an den unterschiedlichen Ausgangs- und Interessenlagen der Mitgliedstaaten zerbrochen. Wachstums- und Inflationsraten streben weit auseinander und machen eine einheitliche Konjunkturpolitik nachgerade unmöglich.

Denn auch Europa hat seinen Nord-Süd-Konflikt, etwa zwischen Deutschland und Italien, und bald auch zwischen Griechenland und Spanien einerseits und den übrigen EG-Ländern insgesamt.

Zuletzt aber ist auch der Aufbau eines gemeinsamen Währungssystems gescheitert. Am Jubiläumstag war mehr von den Abwertungswünschen der Belgier, Dänen, Franzosen, Irländer und Italiener die Rede als von schönen Feiern und die meisten Festreden waren in Molltönen gehalten. Schließlich aber hat die Bürokratie die Institutionen der Brüssler EG-Zentrale so heftig erfaßt und in den Griff genommen, daß für die Koordination politischer und wirtschaftlicher Pläne kaum noch geistiger und zeitlicher Spielraum bleibt.

Im Europa der Schrebergärten herrscht Grabesruhe, wenn nicht gerade Margaret Thatcher offen sagt, was die Vertreter der anderen Mitgliedstaaten diplomatisch unterdrücken: „I want my money back". Im Europa der Schrebergärten regiert das „beggar-my-neighbour"-Prinzip, auch in der für jede Zusammenarbeit tödlichen Erscheinungsweise des wirtschaftlichen Protektionismus.

Denn im Europa der Schrebergärten herrscht zur Zeit wirtschaftliche Not und hohe Arbeitslosigkeit: 10 Millionen Menschen sind in diesem Wirtschaftsraum ohne Arbeit und da ist es nur konsequent, wenn die demokratisch gewählten Parlamente in den Mitgliedstaaten öfter auf den Wahlkalender schauen als sich um das Fortleben der Europa-Idee zu kümmern.

Und dennoch lebt diese Idee fort, nicht mehr als glanzvolle Vision, nicht mehr als großer Traum, sondern als tägliche Auseinandersetzung mit einer häufig genug glanzlosen Wirklichkeit.

Europäische Einigkeit „läßt sich nicht auf einmal schaffen", meinte der spiritus rector des Europa-Gedankens, Robert Schuman, Ende der fünfziger Jahre, sondern sie wächst langsam und mit einer jeden gemeinsamen Tat. Nicht der Europa-Gedanke, sondern die Europa-Politik ist in eine „Midlifecrisis" geraten. Das es so kommen würde, hat ein anderer „Vater" der Europa-Idee, Jean Monnet, vor bald dreißig Jahren präzis vorhergesehen: „Ich war immer davon überzeugt, daß Europa in Krisen entstehen wird und daß es die Summe der Lösungen sein würde, die man für diese Krisen findet".

Die Ungeduld ist die Feindin der Zukunft. Die Zukunft Europas liegt so wie vor 25 Jahren in einer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit seiner demokratischen Staaten.

Der beschwerliche Weg in diese Richtung führt nicht über geregelte politische und ökonomische Kreuzungen, sondern auf unübersichtlichen, unwegsamen und schmalen Pfaden. Bei einem neuen Anlauf sollte man freilich anders als vor 25 Jahren bedenken, daß die Integration Europas, auf welcher Stufe dies immer geschieht, kein Reproduktionsprozeß dessen sein kann, was anderswo - etwa in den Vereinigten Staaten - geschehen ist.

Die Strukturen der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit und erst recht der europäischen Einigung müssen der Vielfalt des demokratischen Europas, seiner historischen, kulturellen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Eigenart Rechnung tragen.

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