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Das handle will nach Europa

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Ohne die Kreativität Österreichs bleibt die Europäische Union unvollständig. Vorarlberg will seine Stärken und Vorzüge bewußt anbieten.

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Ohne die Kreativität Österreichs bleibt die Europäische Union unvollständig. Vorarlberg will seine Stärken und Vorzüge bewußt anbieten.

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REDAKTIONELLE GESTALTUNG: JOSEF GRAISY

Es ist kein Geheimnis, daß ich zunächst und vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen für einen EG-Beitritt Österreichs eingetreten bin. Und die wirtschaftliche Notwendigkeit ist für mich größer denn je.

Ich denke, man kann nach gut 40 Jahren Integrationsprozeß mit guten Gründen sagen: Die EG beziehungsweise EU ist die erfolgreichste inter-beziehungsweise supranationale Wirtschaftsgemeinschaft der Ge-scfiichte. Es wäre aber ein Mißverständnis und ein Irrweg zu meinen, die wirtschaftliche Integration sei das Ziel der europäischen Integration. Das ist sie nie gewesen. Wo liegen dann die Ziele?

Europa ist auf der Suche zu sich selbst und es tut gut, sich seiner Wurzeln zu besinnen. Eine solche Besinnung tut heute umso mehr Not, als wir an einer Zeitenwende stehen. Der österreichische Dichter Stephan Zweig hat solche historische Augenbhcke treffend als „Sternstunden der Menschheit" formuliert. Nur selten ist es dem Menschen vergönnt, eine „Weltstunde" zu erleben. Ob sie genützt wird oder nicht -davon kann das Schicksal ganzer Generationen abhängen.

Österreich vnirde bei einem Beitritts-Verzicht zwar zweifellos Einbußen in der Entwicklung der Wohlfahrt, des sozialen Standards und der Freizügigkeit erleiden, die jedoch eher verkraftbar wären als der Unsicherheitsfaktor, der Zwang zum Nachvollzug, der Mangel an Mitgestaltung des künftigen Europa und der ökologischen Standards.

John F. Kennedy ist berühmt geworden mit der Aufforderung, sinngemäß: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst. . Und so, denke ich, könnte man auch uns Österreichern sagen: Fragt nicht nur, was Europa für Euch tun kann. Fragt auch, was Österreich für Europa tun kann. Fragt nicht nur, was Euch Europa bringt! Fragt auch, was Ihr Europa bringen könnt! Nun, an Sendungsbewußtsein für

Europa fehlt es in Österreich nie, wenn man mit Stolz zurückblickt ins goldene Kakanien. Mag sein, daß das in Vorarlberg etwas weniger ausgeprägt ist.

Wir Österreicher mit unserer zutiefst europäischen Tradition, mit den ältesten und engsten Verbindungen zu unseren Nachbarn im Osten, mit unserer weltweiten Bonität, die wir uns in den vergangenen 40 Jahren erarbeitet haben - wir Österreicher haben auch eine Verantwortung für die Zukunft Europas, und wir haben eine ganze Menge einzubringen.

Wir bringen nicht nur unsere Tradition ein, unsere Kultur, unsere östverbindungen, unsere Diplomatie und so weiter. Wir bringen auch unsere Rechtsstaatlichkeit ein, unsere Demokratie und - ich bitte das nicht zu unterschätzen - auch unsere Bun-desstaathchkeit.

GEISTIGE GRUNDLAGEN

Auf dem Weg nach Europa stellen wir Österreicher uns die Frage nach dem Bindenden in Europa, das im Geistig-Kulturellen längst vorhanden ist und das uns eigentlich die Kraft geben kann. Ich verweise auf eine Reihe von Persönlichkeiten, deren Ideen und Wirken Europas Geistesgeschichte maßgebend prägten:

Sokrates, der Aufklärer mit seiner praktischen Vernunft und der Geburt des Individuums; Paulus, der Apostel, der als erster das Evangeh-um nach Europa brachte: „Vor Gott sind alle Menschen gleich"; Augustinus, der bedeutendste Kirchenlehrer des Abendlandes, der in „de civitate dei" die Weltgeschichte als Heilsgeschichte betrachtet; Benedikt von Nursia, der Begründer des abendländischen Mönchtums, das mit seiner Lebensregel „Ora et labora" entscheidend zur Kultivierung Europas beitrug; Method und Kyrill, die Slawenapostel; Martin Luther, Reformator der Kirche, für persönlichen Glauben und individuelle Freiheit eintretend, und viele andere.

Jede politische Ordnung dieses Kontinents muß nach diesen geistigen Grundlagen fragen. Und ohne Österreich - ich sage es noch einmal, so selbstbevraßt können wir ruhig sein -, ohne unsere stolzen Kultur-und Geistestraditionen, ohne^as kreative Österreich von heute ist eme Europäische Union unvollständig.

Ein Staat mit diesen Traditionen, mit diesen Potentialen darf sich Europa gar nicht verweigern. Das würden gerade auch jene Nachbarstaaten nicht verstehen, mit denen uns eine lange gemeinsame Geschichte unter Habsburgs Kronen verbindet. Nur wenn Österreich in die Union eintritt, kann es weiterhin jene Brückenfunktion wahrnehmen, die heute mehr denn je gefordert ist.

Es gibt genügend Gründe, die einen Beitritt Österreichs zur EU sinnvoll und notwendig, die ihn vernünftig erscheinen lassen. Mit der Vernunft allein werden wir die Menschen aber nicht für Europa begeistern können, wir müssen mit dieser Idee auch ihre Herzen erobern.

EUROPA DER VIELFALT

Nun, Jacques Delors fragt zu Recht: „Wer verliebt sich in einen gemeinsamen Markt?" - Wer die Chancen des Binnenmarktes nicht sieht, ist blind. Wer im geeinten Europa aber nur oder vor allem einen gemeinsamen Markt sieht, der hat Europa noch nicht begriffen.

Jacques Delors, der europäische Technokrat, mahnt offen, daß eine Europäische Union mit Ökonomie, mit Binnenmarkt allein zum Scheitern verurteilt ist; Jacques Delors, der Technokrat, mahnt, die Union mit „Spiritualität" zu erfüllen.

Kann das „christliche Europa" ein Ziel sein? Herr Abt Kassian Lauterer (Stift Mehrerau) warnte erst unlängst vor einer Mythologisierung eines „christlichen Europa'. Zweifellos sei die europäische Integration Österreichs nicht nur ein Angebot, sondern auch ein Auftrag; ein Auftrag gerade auch für engagierte Christen.

Europa ist mehr als eine starke Wirtschaftsmacht, es ist vor allem eine geistige Kraft, die in ihrer Vielfalt an Kulturen, Sprachen und Traditionen liegt. Europa ist Heimat der Vielfalt und Vielfalt der Heimat.

Nur die Länder und Regionen können und sollen ihren Bürgern Heimat sein, ein Raum, in dem Rindung erlebt wird und in dem sich Weltoffenheit und Weltverantwortung konkretisieren.

Wenn wir den Menschen in Vorarlberg und in den anderen Ländern deutlich machen und beweisen können, daß sie in einem Europa der Regionen nicht weniger, sondern mehr mitbestimmen können, daß es mehr denn je auf sie und ihre Länder ankommen wird, dann haben wir eine gute Chance, sie für Europa zu gewinnen.

Martin Purtscher

ist Landeshauptmann von Vorarlberg, der Beitrag ein Auszug seiner Rede heim Europatag in Götzis im April 1994.

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