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.. nicht verloren. - Perspektiven für einen müden Kontinent.

Das Europa von heute ändert sich und wächst sehr rasch zusammen. Die alten historischen Wunden verheilen langsam - dennoch bleiben die Narben der gemeinsamen Geschichte klar erkennbar. Wir sind alle froh über diesen Heilungsprozess, man hat ihn auch erwartet - er wird vor allem durch die EU-Erweiterung beschleunigt. Was man manchmal nicht zur Kenntnis genommen hat, ist die Tatsache, wie schmerzhaft komplexe Heilungsprozesse in der Regel sind. Versuchen wir die Elemente dieses Heilungsprozesses aufzuzeigen und allfällige Gefahren zu nennen.

2. In der alten und neuen Union haben wir heute alle dieselben sehr pragmatischen Sorgen: Wachstumsraten, Arbeitslosigkeit, Standortverlegung von Betrieben, Immigration, Terrorismus. Diese Stichwörter der Politik und der Medien füllen fast zur Gänze die tägliche Agenda in den EU-Ländern und in Brüssel. Wenn man noch - über die EU-Grenzen hinaus - die Sicherheit der Energieversorgung dazunimmt, hat man den Katalog der wesentlichsten, für die Menschen lebenswichtigen Probleme von heute komplett. Die Fähigkeit, Antworten auf diese Fragen zu finden, wird vor allem von Politikern erwartet.

Verlorene Tapferkeit

3. Hat Europa noch eine Weitsicht und eine Perspektive? Besitzt es noch dieselbe Anziehungskraft, die es so lange hatte? Man könnte sagen: ja. Millionen von Immigranten kommen doch auf allen Wegen hierher - legal und illegal. Sie bringen auch ihre eignen Werte mit, wollen diese aber eher nicht gegen unsere tauschen. In vielen Ländern versucht man eine gemeinsame Werteebene mit verwaltungspolitischen Mitteln zu erreichen. Immer öfter versucht man auch, Recht und Verwaltung dort einzusetzen, wo Religion, Sitten und die Ausstrahlung der Kultur versagen.

4. Haben wir unsere Tapferkeit verloren, verschließen wir vor den eigentlichen Problemen unsere Augen? Akzeptanz des Risikos, Furchtlosigkeit - wurden diese Gefühle nicht aus dem öffentlichen Leben verbannt und in Richtung Sport verlagert? Heute sind extreme Sportarten populär wie noch nie - das Risiko im Alltag hingegen wird allgemein gefürchtet. Man plant am besten die Rente schon mit 20. Was haben wir mit der Risikobereitschaft und dem Entdeckungspotenzial Europas gemacht? Diese einst für Europa so typischen Werte werden nur noch in der Wissenschaft und beim Militär geschätzt; ansonsten verschwinden sie in Computerspielen und Reality Shows, welche oft besondere Mutproben fordern. Man könnte behaupten, das sei eine positive Entwicklung. Tapferkeit, Heldentum - all das wurde im Totalitarismus auf schreckliche Art und Weise exponiert und während der beiden Weltkriege überstrapaziert. Ist aber dabei die Zivilcourage als europäische Tugend nicht verloren gegangen?

5. Die Europäische Union ist als eine Art "Friedenskirche" entstanden und zu einer Wohlstandsinsel geworden. Verhandlungen, Kompromisse und Pragmatismus haben uns mehrmals gerettet. In der Phase der Integration war das auch notwendig. Viele Konflikte wurden aber dadurch totgeschwiegen oder gar als Bedrohung angesehen. Zu Recht erinnert man daran, dass eine gemeinsame, oft beschworene geschichtliche Erinnerung eine Erinnerung an Konflikte sein muss, wie Kurt Biedenkopf einmal schrieb. Was wir brauchen, ist eine neue Konfliktkultur.

Zweifel und Selbstkritik

6. Es gibt Hunderte gründliche Diagnosen der trotz einer insgesamt guten Konjunktur herrschenden Krisenstimmung in Europa. Globalisierungstendenzen werden oft zur Pauschaldiagnose, die alles erklärt und entschuldigt - auch unsere eigenen Schwächen. Es wird auch betont, dass Europa geistig - und nicht nur geistig - altert. Zweifel und Selbstkritik waren schon immer unsere Stärken.

7. Noch ist Europa nicht verloren ... Was kann man - auf der Ebene des nationalen Staates - konkret tun? Wie kann man wieder Hoffnung schöpfen und die Ausstrahlung des Mythos Europa wiederfinden, ohne das bittere Bewusstsein unserer Geschichte zu verlieren? Die Verfassungskrise könnte hier unsere Chance sein. Wenn man bedenkt, dass man in einer Sackgasse wieder ein Stück zurückfahren muss, wird einem klar, dass man die Schätze der Geschichte Europas - auch Zentraleuropas - wiederentdecken muss.

8. Zentraleuropa, Mitteleuropa - und Polen gehört auch dazu - war lange sowohl eine Schatzkammer als auch ein Tiegel der Geschichte. Die Donaumonarchie hatte in ihrer Endphase viele Probleme mit der Integration, sie hat manch einen Konflikt der Religionen und Identitäten erlebt. Diese Erfahrung könnte neu und auch sehr politisch diskutiert werden. Ich glaube, wir könnten daraus viel lernen und auch viele aktuelle Gefahren wiedererkennen. Mitteleuropa war aber auch eine Schatzkammer, ein Ort der Begegnung. Wien hat diese Rolle wieder aufgenommen, um die Europa-Debatte zu beleben. Es kommt eine Zeit, wo man sich mehr auf Antworten und nicht so sehr auf immer wiederkehrende Fragen konzentrieren sollte.

9. Wie kann man Europa seine Ausstrahlung wiedergeben? Die 500 Jahre Vorherrschaft unseres Kontinents gehören bereits der Vergangenheit an. Wenn wir anderen den Weg weisen wollen, wie dies der europäische Verfassungsentwurf vorsieht, sollten wir zunächst unsere europäische Identität stärken, nicht nur die Identität der Staaten und Nationen, denn in der globalisierten Welt werden wir ja als Europäer angesehen, zum Beispiel in China oder Indien. Wir sollten stärker betonen, worauf wir stolz sind und sagen, was ein gemeinsamer historischer Fehler Europas war und uns lautstark zu den historischen - auch christlichen - Wurzeln unseres Kontinents bekennen.

"Friedliche" Vorbilder (also nicht Feldherren), die in Schulen erwähnt werden, sind doch vorwiegend Persönlichkeiten aus dem Bereich Kultur oder Politiker. Wir bewundern viel zu wenig Entdecker, Erfinder, Unternehmer oder einsame Kämpfer, die sich voller Zivilcourage dem Bösen entgegengestellt hatten. Außer den bekanntesten Größen sind uns ihre Namen oft unbekannt, es sei denn, es geht um die eigene Landesgeschichte.

Integration durch Bildung

10. Die Lösung für unsere Probleme könnten europäische Bildungsprogramme sein. Unser großer Stolz ist das Erasmus-Programm. Studierende reisen ins Ausland und lernen einander an Hochschulen in ganz Europa kennen. In der Praxis bleiben sie jedoch für gewöhnlich in ihrer eigenen Gruppe von Ausländern - den "Erasmusstudenten", wie sie sich bereits bezeichnen. Der Kontakt mit den Studierenden der Gastuniversität außerhalb der Hochschule ist gering. Trotzdem wird es dank des Erasmus-Programms in einigen Jahren eine neue europäische Elite geben - mit gemeinsamen Erfahrungen aus der Jugendzeit und vitalen beruflichen Kontakten. Für die Kinder von Immigranten ist das aber während ihrer Ausbildungszeit zu spät. Die moderne Massenuniversität vertieft nur ihre Einsamkeit und das Gefühl, verloren zu sein.

Eine gemeinsame Erziehung europäischer Eliten sollte nicht nur im Rahmen solcher Programme wie Erasmus erfolgen oder an grenzüberschreitenden Universitäten, sondern bereits früher. Die Europäische Union und die Nationalstaaten könnten durch Förderungen einem entsprechenden Anteil an begabten Kindern von Einwanderern den Zugang zu den besten Eliteschulen Europas ermöglichen. Die größten weltweiten Wettbewerbe für junge Programmierer werden heute in China und in den USA veranstaltet und nicht in Europa. Wir stellen junge Informatikstars keineswegs auf ein soziales Podest, wie einst Nansen oder Pasteur in deren Fachbereichen. Außer dem guten alten Nobelpreis gibt es keine anderen Mechanismen dieser Art.

Europas Lebensmodell

11. Ich meine, dass unser Kontinent, der soziale Werte in den Vordergrund stellt, die Würde des Menschen hoch schätzt, Ungleichheiten zu beschränken trachtet und der Bedeutung der Kultur einen entsprechenden Stellenwert einräumt, nach wie vor etwas Besonderes ist. Die Verbindung von Tradition und Zukunft, die Achtung vor der Freiheit des Wortes und ein großes Erneuerungspotenzial - das sind unsere Stärken. Da wir ständig von anderen Kontinenten lernen, auch im sozialen Bereich, zum Beispiel die Achtung vor älteren Menschen von Asien, die wirtschaftliche Dynamik von Amerika oder die Bedeutung der Familie von Afrika, haben wir immer noch viel in Zentraleuropa anzubieten - in Wien, in Krakau, in Prag oder in Budapest.

Die Autorin, Professorin für Verwaltungsrecht an der Kardinal-Wyszynski-Universität in Warschau, war von 2000 bis 2004 polnische Botschafterin in Österreich. Zuletzt fungierte sie als Deutschland-Beauftragte der polnischen Regierung - dieses Amt legte sie im Mai aus Protest gegen den Regierungseintritt der radikalpopulistischen Bauernpartei "Samoobrona" zurück.

Der Text ist die gekürzte Wiedergabe eines Vortrags, den Lipowicz letzte Woche anlässlich der Entgegennahme des Mitteleuropapreises des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Klosterneuburg gehalten hat.

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