Gemeinsames Europa - Perspektive oder Irrlicht?

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Zuerst die Schulden- und Euro-, dann die Flüchtlingskrise: Die gebotene Einheit der Vielfalt Europas wird durch eine Vielheit einfältiger Vorgangsweisen überdeckt. Ein Gastkommentar.

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Zuerst die Schulden- und Euro-, dann die Flüchtlingskrise: Die gebotene Einheit der Vielfalt Europas wird durch eine Vielheit einfältiger Vorgangsweisen überdeckt. Ein Gastkommentar.

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Es war und ist schon ein fantastisches Projekt, ein gemeinsames Europa, das im Weltkonzert koordiniert und strategisch aufgestellt wahrgenommen werden soll. Es begann Anfang der Fünfzigerjahre mit Kohle und Stahl, wäre Energie auch dabei gewesen, dieses Europa würde wenigstens in der Ukraine-Krise eine bessere Figur machen. Dieses Europa hat sich weiterentwickelt und auch in Krisen behauptet. Das fantastische Projekt sollte nicht zum Fantasie-Projekt verkommen. Ist es das Pensionsalter, in welchem das Kohle- und Stahl-Europa angekommen ist, welches die Krisen so schmerzvoll erfahren lässt?

Österreich konnte ja aufgrund der Nachkriegsordnung Europas mit einer Neutralität, die lange Zeit die Teilnahme an der europäischen Integration zum no go machte, erst relativ spät in die EU, zu einem Zeitpunkt als die EG/EU Kurs in eine evolutive Sackgasse einer schlecht vorbereiteten Vertiefung nahm.

Bürgerferne Herrschaftsbürokratie

Die Vertiefungen stehen alle auf sehr wackeligen Beinen. Die aktuelle Flüchtlingskrise hat das Potenzial, überhaupt zur Bruchstelle dieses Hauses Europa in der geplanten Form der EU zu werden. Resilienz ist wahrlich keine Eigenschaft der europäischen Strukturen, weder Euro, noch Schengen, noch Außen- und Verteidigungspolitik überzeugen. Während die Nationalstaaten seit der Jahrtausendwende viele ihrer Instrumente reduzierten, gelang es auf europäischer Ebene nicht, schlagkräftiges politisches Handeln zu gewährleisten.

Das Maastricht-Europa entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als eine Totaloperation am lebenden Corpus Europa, es war schlecht vorbereitet, wurde bisher mangelhaft durchgeführt und reagiert bei Schwierigkeiten schwerfällig und mangelhaft. Die Schulden- und Euro-Krise wurde noch mit Schrammen und Bruch aller rechtlichen Grundsätze notdürftig bewältigt, jetzt, da es um Menschen geht, fehlen Strategien und vor allem Solidarität. Die gebotene Einheit der Vielfalt Europas wird durch eine Vielheit einfältiger Vorgangsweisen überdeckt.

Die politische Aufstellung ist eine holprige, der gewichtige EU-Rat bleibt ein Wanderzirkus von Delegierten, die ihre Macht und Rechtfertigung in den Mitgliedsstaaten haben, das Parlament leidet unter der Wahrnehmung eine Recht-Fertigungs-Institution zu sein. Mit der Europäischen Kommission schließlich erleben wir das Protobeispiel einer hochnäsigen, bürgerfernen und darüber hinaus konzeptionell schwachen Herrschaftsbürokratie mit einem ungehemmten Drang, über die Menschen drüberzufahren und ihnen das Leben bis in die kleinsten Details vorzuschreiben.

Europas Führer der Jahrtausendwende - Schröder, Berlusconi, Chirac, Schüssel, Blair - repräsentieren ein Panopticum von Führungspersönlichkeiten mit unterentwickeltem politischen Potenzial. Diese Politiker folgten den Visionären Europas wie François Mitterrand und Helmut Kohl. Es hätte gegolten, so manch unvollkommene Vision, dieser hauptsächlich im Krieg-Frieden-Schema denkenden Politiker in organisatorisch und regulativ brillante Aufstellung zu bringen. Damit waren aber Schröder, Berlusconi, Schüssel &Co völlig überfordert, manche drifteten unter dem Druck der Verantwortung in persönlich unreife Verhaltensformen ab. Entscheidungen wie die Aufnahme Griechenlands in die Euro-Gruppe oder das Tempo der Osterweiterungen bzw. die Auswahl der Länder dafür folgten in vielen Fällen unreflektierten Zurufen und Herrschaftsallüren dieser Herren.

Spaltende Einheitswährung

Manche Staaten hatten auch in der Folge extremes Pech wie Österreich mit den Regierungen Gusenbauer und Faymann oder Frankreich mit Sarkozy und Hollande. Die Finanzkrise 2007/08 brachte weite Teile der Weltwirtschaft in den Krisenmodus, aber während die USA dazwischen wieder deutliche Phasen der Erholung schafften, schlittert die EU von einer Krise in die andere, dabei Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oft verlassend. Ein Exekutiv-Föderalismus, welcher nationale Parlamente immer mehr in die Rolle von Ex-post-Durchwink-Einrichtungen "ohne Alternative" verwandelt, stellt auch ein demokratiepolitisches Problem dar.

Ohne Not und ohne die Menschen zu fragen, begann man die Nationalstaaten und ihre Institutionen (Währung, Sicherheitsbereich) zu zerschlagen bzw. zu redimensionieren ohne gleichzeitig funktionstüchtige Systeme auf europäischer Ebene zu installieren. Darin ist wohl eine ganz besonders verhängnisvolle Vorgangsweise zu sehen. Eine selbsternannte europäische Elite schickte sich an, kollektive "Geschäftsführung ohne Auftrag" zu betreiben und dieses Europa auf Schlingerkurs zu bringen.

Die Menschen Europas leben nach wie vor mental und real im Nationalstaat, Reisen mit wenig Grenzkontrollen und eine gemeinsame Währung - in der Welt der Kreditkarten und Smartphones - schaffen noch kein Europa-Gefühl, und vor allem lassen sie nationale Identitäten nicht verschwinden. Wenn auch eine heranwachsende junge Generation gemeinsame Währung und offene Grenzen sich nicht mehr wegdenken kann, ist eine gemeinsame europäische Identität noch nicht auszumachen. Vielmehr hat die übereilt eingeführte Gemeinschaftswährung eine Entwicklung forciert, die aus Europäern Gläubiger und Schuldner machte, mit all den Auseinandersetzungen, welche wir in den letzten fünf Jahren etwa in der Beziehung Deutschland-Griechenland wahrnehmen können.

Speed kills, davon werden wir jetzt Zeuge, da das Schengen-Europa im Begriffe ist einem Luftballon gleich zu platzen. Vom Europa ohne Grenzen kann der Weg - wie unsere Tage zeigen - kurz sein zu einem Europa der Zäune. Wir haben die Fähigkeit unsere Grenzen zu sichern aufgegeben und uns die Fähigkeiten Ströme zu kontrollieren - von Menschen, von Information, von Kapital, von Energie - nur unzureichend angeeignet.

Public-Relations-Manager und Spin-Doktoren müssen Ideen und Überlegungen verkaufen. Offenbar sind aber in diesem Prozess des politischen Marketings gewaltige Fehler passiert. Der manipulierte Bürger erkennt in vielen Bereichen, dass vieles nicht stimmt und die Dinge schön aufgeputzt werden. Damit haben die Verantwortungsträger den Nährboden für das geschaffen, was sie dann verächtlich als "Populismus" bezeichnen. Politiker sollten den Bürgern aufs Maul schauen, um die klare Sprache Martin Luthers zu bemühen - das ist freilich etwas anderes, als den Menschen nach dem Mund zu reden.

Wenn Politik den geistigen Kontakt zu den Menschen verliert, dann geht auch ein guter Teil der Handlungssouveränität verloren. Die gewaltigen Herausforderungen können jedoch nur durch das engagierte Mitwirken der Menschen gemeistert werden. PR-Schönsprech, Ignorieren von offensichtlicher Realität und Druck auf die staatlichen Institutionen, sich zu verschweigen, sind Gift für eine Vertrauenskultur in der Gesellschaft.

Ohne Rückgewinnung der geistigen Hoheit - auch über den berühmten Stammtischen - wird ein souveränes Meistern der vielfältigen Probleme nicht möglich sein. Politik gegen die Menschen ist nicht möglich, das ist ein Megatrend, der sich weltweit durchzusetzen scheint, was ja auch als Fortschritt der Menschheit gesehen werden kann.

Mangelnde mentale Kraft

Das Maastricht-Europa brachte den Euro und sinkende Einkommen samt Ungleichheiten, aus Europäern von Griechenland bis Finnland wurden auf einmal Schuldner und Gläubiger, feindseliges Denken zog ein. Was der Integration dienen sollte, intensivierte die Segregation und Auseinanderentwicklung der Länder der EU. Dieses Scheitern an der strategisch-operativen Bruchstelle von Politik sollte gerade von Wien aus, dem Geburtsort des legendären Management-Denkers Peter Drucker, angesprochen werden.

Das gemeinsame Europa soll Ziel und Perspektive bleiben, auf dem Weg dorthin dürfen die Menschen und Institutionen nicht überfordert werden, denn speed kills. Nur ein anspruchsvoller Integrationsprozess, welcher die Einheit europäischer Vielfalt im Auge behält, wird von den Menschen getragen und sichert Europa einen Platz in einer Welt, deren Einflusssphären völlig neu gestaltet sind. Ein Einheitseuropa mit gleichgeschalteten Konsumgüter-Labels wird die mentale Kraft nicht aufbringen, im Wettbewerb mit anderen Gesellschaftsdesigns wie beispielsweise dem Islam erfolgreich zu sein.

Der Autor lebt als Politikberater und Publizist in Dornbirn und Perchtoldsdorf und war zeitlebens in der Personal- und Organisationsentwicklung in Wirtschaft und Politik tätig

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