Das Euro-Kind ist schon im Brunnen

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Die Ökonomen haben sich in der Diskussion um den Euro gründlich zerstritten. Versuchen wir es daher einmal ganz anders: Holen wir uns Rat bei den alten Römern und bei Shakespeare!

Von den Römern stammt die kluge Frage: Cui bono? Ja, wem nützt eigentlich der Euro wirklich? Da gibt es genug: Die Politiker sind hauptsächlich zur Beruhigung der Franzosen nach deren Ärger über die deutsche Wiedervereinigung für die Einführung des Euro gewesen. Das war viel zu früh, aber wer gibt solche Fehler schon gerne zu? Die EU-Bürokratie in Brüssel ist für alles, was ihre Kompetenzen absichert. Die Banken wollen nicht noch mehr Verluste bei ihren Staatsanleihen. Die Staaten, die Geld dringend brauchen, wollen in der Euro-Zone bleiben, um es auch weiterhin zu bekommen. Zerbricht der Euro, dann wird die neue deutsche Währung wahrscheinlich kräftig aufwerten. Das schafft für die deutsche Exportindustrie und ebenso für die dort Beschäftigten massive Probleme. Der Euro hat viele mächtige Freunde - und findet deshalb auch genug wortgewaltige Verfechter in der Öffentlichkeit.

In dieser Aufzählung fehlt nur leider einer: der ganz normale Bürger eines EU-Staates. Wir kommen gleich auf ihn zurück.

Europas Deindustrialisierung

Von Shakespeare stammt der Hinweis, dass man nicht immer anständige Motive vermuten sollte, wo es auch weniger anständige gibt - oder zumindest handfeste Interessen: Ist einmal "in Drachengift die Milch der frommen Denkungsart verwandelt“, dann sieht man die Dinge manchmal deutlicher: Viele Argumente zugunsten des Euro sind schlichte Verteidigung eigener Interessen. Aber sind es auch die des erwähnten ganz normalen Bürgers?

Für diesen Bürger ist nicht die Verschuldung seines Staates das größte Problem, sondern sein Arbeitsplatz. Aber über den entscheidet nicht die Politik, sondern die internationale Konkurrenzfähigkeit Europas. Und damit schaut es nicht gut aus. "Europa befindet sich längst in einer Phase der Deindustrialisierung. EU-weit reduzierte sich der Anteil der industriellen Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt von rund 22 Prozent in 2000 auf etwa 18 Prozent in 2010. Wenn Europa sein Wohlstandsniveau halten will, muss es seine industrielle Basis erhalten und ausbauen“, so EU-Kommissar Günther Oettinger. Aber dabei spielt nun einmal der Wechselkurs des Euro eine kritische Rolle. Verlierer dabei sind vor allem die Südländer der EU. Für die ist der Wechselkurs des Euro schlicht zu hoch. Sie müssten im Interesse ihrer Bürger ihre industrielle Basis erhalten und ausbauen, sollen das aber heute zu einem Wechselkurs, den gerade einmal einige Nordländer bewältigen können.

Und wie sollen sie das schaffen, wenn sie den Wechselkurs nicht mehr selbst bestimmen können? Klassische keynesianische Konjunkturpolitik scheitert schlicht daran, dass die hohe Staatsverschuldung nicht noch mehr Schuldenmacherei zulässt. Die Geldpolitik ist längst an die Europäische Zentralbank abgetreten. Die sorgt derzeit konsequent für niedrige Zinsen. Das ist das Beste, aber - neben faktischem Gelddrucken - auch das Einzige, was sie derzeit tun kann. Und so ist der Spielraum praktisch null.

Sparprogramme statt Abwertung?

Statt im Wechselkurs machen sich die unvermeidlichen Anpassungsprozesse an unterschiedliche Politik und unterschiedliche Konkurrenzfähigkeit eben auf andere Weise bemerkbar - nämlich umso stärker über steigende Defizite in der Außenhandelsbilanz und im Staatsbudget, über höhere Arbeitslosigkeit und geringeres Wirtschaftswachstum. Und keines der klassischen wirtschaftspolitischen Instrumente kann dagegen noch mobilisiert werden.

Auch die sozialen Effekte sind völlig andere, wenn Anpassungen an verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit statt durch Abwertungen durch Sparprogramme erfolgen. Bei Abwertung geht der Lebensstandard eines Landes wie mit einem Fahrstuhl bergab. Alles geht nach unten, aber die sozialen Strukturen bleiben im Wesentlichen unverändert. Bei Einsparungen im Budget leiden dagegen am meisten die, die vom Budget abhängig sind. Und das sind nun einmal die sozial Schwächsten. Die sozialen Strukturen werden massiv zu deren Lasten verändert. Man sieht heute bereits in Griechenland die praktischen Auswirkungen. Die Bevölkerung hat nichts von den enormen Geldern, die unter dem Titel der europäischen Solidarität nach Griechenland - und in Wirklichkeit kaum dorthin, sondern vor allem an die Kreditgeber Griechenlands - geflossen sind, aber sie spürt voll die Last der Sparmaßnahmen.

Alle Industriestaaten leiden derzeit unter dem Problem einer drastischen Auseinanderentwicklung von Arm und Reich. Die gegenwärtige europäische Politik schafft es, in allen Defizitländern dieses ohnedies so heikle Problem noch drastisch weiter zu verschärfen.

St. Nimmerlein, bitt für uns

Halten wir der Politik zugute, dass ihre Handlungsspielräume gering sind. Derzeit will die europäische Politik budgetäre Sparmaßnahmen erleichtern, indem man den besonders betroffenen Staaten Kredite gibt, damit sie nicht zwischenzeitlich Pleite gehen. Das wäre sinnvoll, würden die betroffenen Staaten die dadurch gewonnene Zeit tatsächlich energisch genug nutzen. Statt dessen suchen sie Hilfe bei zwei bekannten Heiligen. Der eine ist der heilige Augustinus, der als Jugendlicher einmal gebetet hat, Gott möge ihn auf den Pfad der Tugend führen, aber bitte nicht gleich. Der zweite Heilige ist der beliebte Sankt Nimmerlein. Oder nüchterner und in den Worten von Hans-Werner Sinn formuliert, dem Wortführer der Kritiker der gegenwärtigen Politik: Erst wird Geld gefordert, und dafür werden Gegenleistungen in Form von energischen Maßnahmen versprochen. Ist das Geld aber einmal auf dem Tisch, dann ist es mit den Maßnahmen nicht mehr ganz so dringend. Dieses Spiel hat nicht erst einmal stattgefunden: Die aktuelle Politik der Finanzierungshilfen erleichtert daher nicht die Anpassungsprozesse, sondern hilft in der Praxis bei ihrer Verschleppung. In diesem Fall darf unser Bürger sogar eine größere Rolle spielen - als ständiger Zahler.

Griechenland erhielt über zwei sogenannte Rettungspakete insgesamt 230 Milliarden Euro und hat zusätzlich seine Anleiheschulden um rund 100 Milliarden zwangsverringert. Das Geld ist weg, und die Situation ist genau so schlimm, wenn nicht schlimmer als je zuvor. Und niemand will aus diesem Fiasko das Geringste lernen?

All diese Probleme werden gerne bagatellisiert oder als Kollateralschaden des Notwendigen dargestellt. Es müsse eben, so heißt es, die europäische Einigung schneller vorangetrieben werden. Aber ein beschleunigter Zusammenschluss hat keinen Sinn, wenn über die Ziele dieses Zusammenschlusses keine Einigung besteht. Die existiert ja derzeit nicht einmal in der nicht gerade unwichtigen Frage, ob die Transfer-union oder die Stabilitätsunion im Vordergrund stehen soll.

Die derzeitige europäische Politik verteidigt den Euro mit dem Einsatz enormer Mittel, aber unter Verzicht auf das Instrument der Abwertung. Dass genau solche Abwertungen in der Vor-Euro-Zeit von Frankreich bis Griechenland einer ganzen Reihe von Ländern - bei allen Nachteilen - geholfen haben, die Außenhandelsbilanz zu stabilisieren und die Beschäftigung halbwegs zu wahren, soll man offenbar vergessen. Das deutsche Modell, mit hoher industrieller Durchschlagskraft wiederholte Aufwertungen auszuhalten, ist für die meisten anderen Staaten einfach nicht machbar.

Es gibt, wie skizziert, mehr als genug Interessenten an einem einheitlichen Euro. Aber man sollte nicht so tun, als ab der normale Bürger dazu gehören würde. Henryk Broder hat angesichts der vielen Märchen, die man dem Bürger erzählt, vom "ultimativen Sieg der Ideologie über den gesunden Menschenverstand“ gesprochen. Wie wahr! Und wer für Europa ist, aber auch für eine klügere Politik, gilt als Ketzer.

Kein Ausweg aus dem Dilemma

Aber das ist ja noch immer nicht alles: Durch die bisherige Politik ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Denn wie immer es weitergeht, steuern wir auf riesige Probleme zu. Will man die Südstaaten weiter finanzieren, indem man gutes Geld dem schlechten nachwirft, mit oder ohne Transferunion, mit oder ohne Wirtschaftsregierung, dann muss man so viel Geld ausgeben, dass die Ersparnisse einer ganzen Generation gefährdet sind. Folgt man dem deutschen Vorschlag rigorosen Sparens, dann ist der Preis der Anpassung eine tiefe, langjährige Rezession. Und wenn, dritte Variante, die Euro-Zone zerbricht, dann wird die dann wieder neu geschaffene DM - oder wie immer sie dann heißen mag - so aufwerten, dass es die deutsche (und die österreichische) Wirtschaft bitter zu spüren bekommt.

Man kennt aus der Bibel die Geschichte von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Tatsächlich brachte der Euro einige gute Jahre, den Nordstaaten durch günstigen Wechselkurs, den Südstaaten durch niedrige Zinsen. Laut der Bibel wurden die fetten Jahre zum Aufbau von Reserven für die mageren Jahre verwendet. Im heutigen Europa wurden in jenen Jahren in vielen Staaten die Reserven restlos aufgebraucht, und Europa geht geschwächt und zerstritten in die kommenden, wie zu fürchten ist, sehr mageren Jahre.

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