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Inflation: Arbeitslosigkeit ist keine Alternative

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In Österreich bekommt das Bild von der "Insel der Seligen" Risse. Eine eigene Wirtschaftspolitik ist dennoch möglich.

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In Österreich bekommt das Bild von der "Insel der Seligen" Risse. Eine eigene Wirtschaftspolitik ist dennoch möglich.

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Seit, mehreren Jahrzehnten bereits ist in Amerika fast niemand mehr „gestorben“. Trotzdem werden die, die „dähingeschieden“ sind, zu „ihren Vätern versammelt“ würden, uns „verlassen“ haben oder „heimgekehrt“ sind, genauso vermißt und betrauert, als ob sie einfach gestorben wären, der euphemisierenden modernen Sprachregelung zum Trotz. Seit fünfunddreißig Jahren gibt es keine „Wirtschaftsdepressionen“ mehr in den Vereinigten Staaten. „Rezessionen“, ja. Aber keine „Depressionen“, denn das würde zu sehr an die schrecklichen dreißiger Jahre erinnern. — In Österreich beobachtet man, wie die Ufer der Insel der Seligen abbröckeln. Wenn das Wasser bis zum Munde reicht, wird man stolz darauf hinweisen, daß andere bis zur Nase in kälterem Wasser stehen oder daß ihre Haifische größer sind?

Rezession oder Depression, wenn die Wirtschaftswachstumsrate nachläßt und zuletzt rückläufig wird und die Zahl der Vollbeschäftigten sinkt während Fabriken zusperren, dann heißt das, daß die Warnsignale bereits überfahren worden sind. In Amerika dürfte die Zahl der Arbeitslosen bald 10 Prozent erreichen. Europa folgt mit etwas Abstand. Außerdem wird in Europa die Arbeitslosigkeit durch das Nichteinstellen von Gastarbeitern ein wenig verschleiert. Nur fehlen die Gastarbeiter trotzdem, denn sie haben ja auch ihren Beitrag zum Nationalprodukt geleistet, der nunmehr ausfällt.

Ein weiser Mann sagte einst, daß diejenigen, die nichts von der Geschichte lernen, dazu verdammt seien, sie zu wiederholen. So wie jetzt, glaubte man auch 1929, daß die Wirtschaft sich in' einer Einbahnstraße vorwärts und aufwärts befände. Man hatte „ein neues Plateau“ erreicht. Reich zu werden war fast unvermeidlich; es nicht zu werden, geradezu unmoralisch. Man wollte die Armut aus der Welt schaffen. Der Klassizist mag hiebei an die „Formel“ des griechischen Dramas denken. Koros, Hybris, Ate — Übermaß und Übermut, die zur Katstrophe führten. Oder wer will, mag an das Alte Testament denken; an Josef, den jüdischen Wirtschaftsberater des Pharao, der prognostizierte, daß auf die sieben fetten sieben magere Jahre folgen würden. Der Pharao hörte auf ihn.

Man soll Anlässe nicht mit Ursachen verwechseln. Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre wurde genauso wenig durch den Untergang der Bodenkreditanstalt in Wien verursacht wie die jetzigen Wirtschaftsprobleme der westlichen Welt durch die Ölkrise von 1973. In beiden Fällen kann man von einer mehr als einer technischen Panne, in beiden Fällen kann man von einer Situation sprechen, in der, nach einer Periode der Übereinstimmung, individuelle und sektorielle Interessen nicht mehr im Einklang mit den wirtschaftlichen Interessen der Gesamtheit standen. Ob das nun eine genügende oder nur eine notwendige Voraussetzung für die Malfunktion der Wirtschaft war, bleibe dahingestellt. Damit mögen sich später einmal, und sehr nützlicher- und aufschlußreicherweise, die Wirtschaftshistoriker befassen. — Was muß jetzt geschehen?

Zur Zeit der großen Depression der dreißiger Jahre wurden in den Vereinigten Staaten nicht einmal Statistiken über die Zahl der Arbeitslosen geführt. Es war eine weitverbreitete Ansicht, daß es eben gute und schlechte Zeiten gebe und daß man die einen hinnehmen müsse, genauso wie man die anderen genieße. Die zeitgenössische Wirt-schaltstheorie lehrte, daß es eigentlich gar keine Depressionen und Arbeitslosigkeit geben könne; wenigstens nicht „in the long run“ — auf die Dauer. Solange man nicht gegen die Regeln des freien Wettbewerbs verstoße, müßte die Wirtschaft von allein wieder ins Gleichgewicht kommen; das heißt, „in the long run“.

Es war das Verdienst des englischen Nationalökonomen John Maynard Keynes, später Lord Keynes, darauf hinzuweisen, daß diese Theorien nicht sehr trostreich sind. In seiner Allgemeinen Theorie zeigt Keynes, daß ein Wirtschafts-equilibrium mit Arbeitslosigkeit genauso möglich ist wie eines mit Vollbeschäftigung — und tatsächlich viel wahrscheinlicher. Er folgerte daraus, daß es die Aufgabe des Staates sei, durch eine entsprechende Wirtschaftspolitik Stabilität und Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Diese Ansicht galt vor 40 Jahren als revolutionär und nicht weniger als ketzerisch.

Wie schnell aber wird aus einer alten nationalökonomischen Häresie eine neue Orthodoxie! Nur etwa zehn Jahre später verabschiedete der amerikanische Kongreß den Employment Act, 1946, der der Regierung die Pflicht auferlegt, mit allen legalen Mitteln für die Gewährleistung der Vollbeschäftigung und der wirtschaftlichen Stabilität zu sorgen. Es ist kein Zufall, daß dieses Gesetz im Jahre 1946 verabschiedet wurde. Es war das erste Nachkriegs jähr, und alle führenden Volkswirtschaftler hatten eine scharfe Depression für die unmittelbare Nachkriegszeit vorausgesagt. Daß diese nicht eintraf, war nicht ihre Schuld.

Ob John Maynard Keynes heute, 40 Jahre nach dem Erscheinen seiner Allgemeinen Theorie, noch ein „Keynesianer“ wäre, werden wir leider nie wissen. Jedenfalls aber war er eher ein Pragmatiker als ein Dogmatiker und hätte zweifellos seine Theorien den geänderten Umständen der heutigen Welt angepaßt. Tatsächlich war er in den dreißiger Jahren vornehmlich an der Wirtschaftspolitik auf kurze Sicht interessiert, weil das Problem damals brennend war.

Aus Keynes' Theorie geht eine Tendenz zur Deflation hervor, wenn eine Wirtschaft nicht voll ausgelastet ist und Arbeitslosigkeit besteht. Zur Inflation, wenn die Wirtschaft die Grenze ihrer Kapazität erreicht. Das erste dieser beiden Postulate fand seine Bestätigung während der großen Depression. Damals kostete ein Steak-Dinner nur einen Dollar; nur hatte niemand einen Dollar. Zur Zeit der übervollen Beschäftigung während der Nachkriegsjahre in Amerika, als Hausfrauen und Studenten Parttime-Jobs annahmen, stieg das Preisniveau genauso wie das den keynesischen Regeln entsprach. Die Wirtschaft hatte die Grenze ihrer Kapazität erreicht, und wenn das Nationalprodukt steigen sollte, so konnte dies nicht mehr durch erhöhte Produktion geschehen, sondern nur noch in der Form höherer Preise. Die „Medizin“ für diese Art von Inflation lag darin, die fieberhafte wirtschaftliche Aktivität etwas zu bremsen.

Keynes' Theorie hatte jedenfalls in diesem Belang ihre Bestätigung gefunden, nur wurde diese leider fehlinterpretiert. Wirtschaftliche Stagnation kann zu fallenden Preisen führen, muß es aber nicht. Inflation resultiert zweifellos daraus, daß die Wirtschaft die Grenze ihrer Produktionskapazität erreicht hat, mag aber auch andere Ursachen haben. Ohne nach den tatsächlichen Ursachen der gegenwärtigen Steigerung des Preisniveaus weiter zu fragen, wurde in einem Lande nach dem anderen die Wirtschaftsbremse angezogen. Das Resultat war natürlich da wie dort eine Reduktion der wirtschaftlichen Aktivität, eine Verlangsamung der Wachstumsraten, aber keine wirksame Bekämpfung der Inflation. Für dieses derzeitige Phänomen hat Professor Samuelson, der Nobelpreisträger vom Massachusetts Institute of Technology, das Wort Stagflation — Inflation mit Stagnation — geprägt.

Längst kann niemand mehr behaupten, daß die gegenwärtige Inflation durch übergroße Nachfrage vorangetrieben wird. Ein Blick auf die Halden unverkaufter Automobile würde genügen, um vom Gegenteil zu überzeugen. Trotzdem gibt man im allgemeinen nicht gerne einen Irrtum zu. Wenn die Medizin nicht wirkt, dann war eben die Dosierung zu klein! Aber Politiker da und dort haben bereits erklärt, daß sie, vor die Alternative gestellt, lieber die wachsende Arbeitslosigkeit stoppen würden als die Inflation. Handelt es sich aber hier tatsächlich um eine Alternative?

Da die Ursache für die fortdauernde Preissteigerung offensichtlich nicht darin zu suchen ist, daß die Wirtschaft die Grenzen ihrer Produktionskapazität erreicht hat, ist es jedenfalls nicht zweckdienlich, weiter auf die Wirtschaftsbremse zu treten. Im Gegenteil, es ist dringend notwendig, die gegenwärtige Stagnation durch eine stimulierende Wirtschaftspolitik zu beenden. Und um der Inflation Einhalt zu tun, müssen andere Mittel als die bisherigen angewandt werden. Diese beiden Ziele lassen sich jedoch gemeinsam verfolgen.

Es besteht Grund, anzunehmen, daß die steigenden Preise das Resultat verminderten Wettbewerbs und eines geschwächten Preismechanismus sind. Dem aber kann durch eine entsprechende Wirtschaftsgesetzgebung Abhilfe* geschaffen werden. Wenn nun gleichzeitig Produktion und Wettbewerb erhöht werden, ist kaum mit einem weiteren Ansteigen der Preise zu rechnen. Es könnte sogar da und dort zu Preissenkungen kommen.'

Nun ist es leichter, zu fordern, daß die wirtschaftliche Aktivität stimuliert werden müsse, als sie wirklich zu stimulieren. Es ist auch leichter, eine Wirtschaft zu bremsen, als sie in Schwung zu bringen; genauso wie es leichter ist, an einer Schnur zu ziehen, als sie zu schieben. Wenn die Zeiten ungewiß sind, sieht man sich vor und spart. Der nicht ausgegebene Schilling wird zum Schilling, der ein Verlust für den Kaufmann ist, der wiederum seine Bestellung beim Fabrikanten storniert. Es genügt nicht, dem Konsumenten zu sagen, er solle mutig sein, weiterkaufen — als ob kein Grund zur Besorgnis bestünde. Man könnte genauso gut dem Fabrikanten sagen, er solle jetzt seine Fabrik vergrößern; es werde schon alles gut ausgehen!

Wie schon vor 40 Jahren festgestellt wurde, liegt die Initiative in diesem Falle beim Staat. Wenn Privatunternehmer jetzt nicht investieren wollen, kann und soll der Staat es tun. Es gibt vieles, was zu tun wäre; und jetzt wäre die Zeit dafür reif, ob es sich nun um neue Kraftwerke, um Straßen oder um Lawinenschutz handelt. Und für eine national profitable Investition Kredit aufzunehmen, ist für eine Regierung genauso vertretbar, wie für einen privaten Kaufmann. — Eine Senkung der Steuersätze läßt die Zukunft für den Bürger und für den Geschäftsmann gleichermaßen rosiger erscheinen. Wie Ludwig Erhard in der Bundesrepublik und die Kennedy-Regierung in Amerika zeigten, kann eine solche Maßnahme die Wirtschaft dermaßen stimulieren, daß die totalen Staatseinnahmen trotz der niedrigeren Steuersätze letzten Endes höher sind als zuvor.

Natürlich kann ein kleines Land wie Österreich sich nicht völlig gegen die Umwelt isolieren. Aber es kann doch seine eigene Wirtschaftspolitik betreiben. Und wenn ungünstige Einflüsse von außen nicht vollkommen ausgeschaltet werden können, könnten sie zumindest abgeschwächt werden. Wenn es schon nicht unbedingt eine Insel der Seligen, kann es wenigstens immerhin eine Insel bleiben. Vielleicht kann man dann sogar noch ein paar Ertrinkende an Land ziehen.

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