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Katalytische Funktion

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Es läßt sich nicht mehr verdrängen: Mit den kontinentalen Umwälzungen, die in den letzten Jahren Europa politisch so grundlegend verändert haben, sind auch die vielen idyllischen Vorstellungen von Österreich als der „Insel der Seligen" im Herzen Europas und als neutrale Brücke zwischen Ost und West hinfällig geworden.

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Es läßt sich nicht mehr verdrängen: Mit den kontinentalen Umwälzungen, die in den letzten Jahren Europa politisch so grundlegend verändert haben, sind auch die vielen idyllischen Vorstellungen von Österreich als der „Insel der Seligen" im Herzen Europas und als neutrale Brücke zwischen Ost und West hinfällig geworden.

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Von den meistens liebgewordenen Klischees, die das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der Österreicher seit der Wiedererlangung der vollen Unabhängigkeit im Staatsvertragsjahr 1955 so nachhaltig geprägt haben, ist Abschied zu nehmen. Das Europa von heute unterscheidet sich grundsätzlich von jenem vor drei Jahren. Selbst kühne Visionäre konnten es nicht voraussehen: Die kommunistische Weltbewegung tot, der Eiserne Vorhang zerrissen, Deutschland wiedervereinigt, die UdSSR aufgelöst, Jugoslawien zerfallen, die Tsche-cho-Slowakei entzwei gebrochen.

Aus der Konkursmasse sind neue Staaten entstanden und alte Konflikte brechen wieder auf. Ethnische und nationalistische Spannungen zerreißen Osteuropa, und unmittelbar vor Österreichs Haustür tobt ein mörderischer Krieg. In Westeuropa andererseits zeigen die Bemühungen um eine Einigung der Völker und Staaten im Rahmen der EG gewisse Fortschritte. Das angepeilte Ziel einer europäischen Union erscheint nach den Maastrichter Beschlüssen trotz Rückschlägen nicht mehr als ferne Utopie.

In diesen bewegten Zeiten wendet sich der Blick voll Sorge auf die Nachbarn im Osten und Südosten, hin zu den Ländern, die durch die Jahrhunderte mit uns verbunden waren. Im Westen erblickt er die Perspektive einer österreichischen EG-Mitgliedschaft und damit einer vollen Teilnahme am Einigungswerk der europäischen Integration. So bleibt dem Österreicher nicht erspart, die alte Frage nach seiner Identität in diesem Europa und der Welt neu zu stellen.

Österreichs unverwechselbare Situation ergibt sich naturgemäß aus seiner Geschichte und Geographie in einem Raum, wo der germanische Sprach- und Kulturkreis mit dem slawischen und dem romanischen zusammentrifft. Die Lage am Kreuzungspunkt von Völkern, Sprachen und Kulturen in Mitteleuropa hat über mehr als tausend Jahre ein Beziehungsgeflecht und einen Schatz von Erfahrungen geschaffen, die es zu hüten und zum Nutzen Gesamteuropas anzubieten gilt.

Die Schicksalsgemeinschaft der Völker Mitteleuropas während der Habsburgermonarchie hat Verbindungen und Gemeinsamkeiten entwik-kelt, die selbst Kriege und totalitäre Ideologien nicht gänzlich zu beseitigen vermochten. Vom Doppeladler blieb nämlich mehr als die kakani-schen Architekturzeugnisse von Czer-no witz bis Agram. Man muß kein No-stalgiker sein, um gerade heute wieder festzustellen, daß in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie tatsächlich so etwas weiter existiert wie eine „österreichische Zivilisation" mit gemeinsamen Wertvorstellungen. Als ihr Leitspruch könnte geschrieben stehen: Laßt uns in der Verschiedenheit miteinander leben.

Die Koexistenz verschiedenster Nationalitäten, Sprachen und Religionen in einem Raum hat die Österreicher im besonderen gelehrt, wie zwiespältig und konfliktreich dieses

Zusammenleben sein kann. Die leidvollen Erfahrungen gerade in der jüngsten Geschichte haben die Österreicher hautnah mit den extremsten Auswüchsen menschenverachtender Ideologien und Systeme konfrontiert. Noch sind die Narben der Wunden, die Nationalsozialismus und Antisemitismus, Haß und Zwietracht zwischen Menschen und Völkern, Krieg und Holokaust und Vertreibung geschlagen haben, nicht überall verheilt.

Österreich, und das wäre schon eine Antwort auf die Frage nach seinem Selbstverständnis im neuen Europa, ist im besonderen dazu aufgerufen, die harten Lektionen, die ihm die eigene Geschichte erteilt hat, stets aufs neue zu lernen und nach außen zu vermitteln.

Diesem geistigen Vermächtnis entspricht eine Gesinnung, die Österreich eine positive zukunftsgerichtete Aufgabe besonders in Europa zuweist. Toleranz, Bereitschaft zum Verstehen des anderen und zur Versöhnung, sollten in diesem Sinne „österreichische Tugenden" sein.

Die eigentliche Berufung Österreichs liegt heute im geistigen Bereich. Die Sensibilität und Verantwortung vor der eigenen Geschichte, verbunden mit dem spezifischen

Verständnis für die Lage der Völker, die uns rings umgeben, übertragen Österreich eine kataly tische Funktion im neuen Europa. Ganz konkret bedeutet dies, daß Österreich prädestiniert ist zu helfen, daß Ost- und Südosteuropa möglichst rasch in die europäische Wertegemeinschaft eingegliedert werden.

Österreich, das den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft anstrebt, trägt ebenso Verantwortung für die Einsicht, daß das Vakuum, welches durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa entstanden ist, nicht durch einen zügellosen Kapitalismus ausgefüllt werden darf. Österreich sollte daher über den wirtschaftlichen Bereich hinaus in einer geistigen-kulturellen Mission Akzente setzen. Alle gesellschaftlichen Kräfte könnten dabei zusammenwirken. An Ideen mangelt es in unserem Lande nicht. Tun wir etwas.

So wird sich die Frage nach dem österreichischen Selbstverständnis im neuen Europa wie von selbst beantworten. Wie sich eindrucksvoll zeigt, hat die Aktion „Nachbar in Not" nicht nur den Menschen im Kriegsgebiet

des ehemaligen Jugoslawien geholfen, sondern sie hat auch wiederum die Österreicher selbst in ihren besten Eigenschaften zusammengeführt. Warum könnte man nicht ein österreichisches Peace Corps für Mittel- und Osteuropa ins Leben rufen? Die Möglichkeit, den Zivildienst auch im Ausland zu absolvieren, wäre ein Ansporn für junge motivierte Österreicher, ihren persönlichen Beitrag für die Menschen, die sie brauchen, zu leisten.

Kleinmut ist falsch am Platz

Auch hier gibt es bereits leuchtende Beispiele aus Österreich. Das Projekt der Caritas etwa für Straßenkinder in Rumänien, wo bereitsjetzt unter österreichischer Leitung ein internationales Team am Werk ist, oder die Errichtung von SOS-Kinderdörfern -wiederum eine Weltidee aus Österreich - in den Reformstaaten in Osteuropa, zählen zu den humanitären Leistungen, die es wert sind, unser Land im positiven Sinne zu erwähnen. Österreichs immer noch bestehende Tradition guter Schulen könnte im Ausland noch stärker belebt werden. Österreichs Talente in Musik und Theater böten ein reiches Betätigungsfeld in einer Region mit historischen Ansatzpunkten.

Vom Rand wieder in die Mitte Europas gerückt, kann Österreich in den verschiedensten Bereichen überaus wertvolle Impulse setzen und Beiträge leisten. Aus solcher Erkenntnis erfließt eine gemeinsame Verantwortung, die das Selbstverständnis der Österreicher im neuen Europa bestimmen müßte. Dabei ist Kleinmut falsch am Platz. „Small" ist wieder „beautiful". Die Entwicklung des Kontinents weist eindeutig in Richtung Subsidiarität und Regionalismus. Österreich hat Zukunft auch in dieser Perspektive.

Der Autor ist stellvertretender Leiter des Völkerrechtsbüros im Außenministerium.

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