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AUFBAU VON STAATEN UND NATIONEN

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Zwei gegenläufige Bewegungen kennzeichen den Weg Europas ins 21. Jahrhundert. Während der mittlerweile demokratisch gefestigte Westen unter dem Stern der Integration steht, bedeutet für den seit mehr als 40,50 oder 70 Jahren unter kommunistischem Joch leidenden Osten Unabhängigkeit, nationale Selbständigkeit und Souveränität alles.

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Zwei gegenläufige Bewegungen kennzeichen den Weg Europas ins 21. Jahrhundert. Während der mittlerweile demokratisch gefestigte Westen unter dem Stern der Integration steht, bedeutet für den seit mehr als 40,50 oder 70 Jahren unter kommunistischem Joch leidenden Osten Unabhängigkeit, nationale Selbständigkeit und Souveränität alles.

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„Wir sind die letzte Nation in Europa, die bis jetzt noch nicht die Selbständigkeit erreicht hat." Das teilte mir vergangene Woche ein politischer Beobachter in der Slowakei mit. Enttäuschung schwang in seinen Worten. Eine Diskussion mit ihm ergab, daß er von der Notwendigkeit einer nationalen Selbständigkeit der Slowakei überzeugt ist, sich auch nicht durch den Hinweis abbringen ließ, daß das neue Europa in eine ganz andere Richtung geht und Souveränitätseinbußen alle Staaten betreffen werden.

Wir erleben heute mit der Wiederentdeckung der nationalen Identität der Völker Europas Versuche, diese zur Grundlage eines Staatsgebildes werden zu lassen. Im Hintergrund steht die Idee des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts. Die jeweilige Religion macht sich dabei nicht selten zum Träger der nationalen Idee.

In einem völkisch durchmischten Europa kann Nationalismus verhec rende Folgen haben - und hat sie auch. Nicht zuletzt wegen der vagen Haltung der von Franjo Tudjman geprägten neo-nationalistischen Politik Kroatiens gegenüber der serbischen Minderheit erhielt die seit Jahren von Serbien bestimmte nationalkommunistische Politik Nahrung. Am Beispiel von Serbiens Präsidenten Slobodan Milosevic läßt sich zeigen, daß das nationale Hemd letztlich dem Volk näher ist als jeder wie immer ideologisch eingefärbte Rock.

Manche der jungen Politiker des gewandelten Ost-Europa haben die katholische Soziallehre im Hinterkopf, wenn sie Souveränität für ihr neues staatliches Gebilde fordern. Lojze Peterle, Regierungschef in Laibach, bemüht den christlichen Personalismus, wenn er den Begriff der Selbständigkeit definiert. Nur ein zu sich gekommenes Volk, das seine Identität auch auf staatlicher Ebene leben kann, kann - wie die reife menschliche Person - über sich und sein Schicksal entscheiden. Integration - meinte Peterle vergangenes Jahr mir gegenüber (FURCHE 44 /l 990) -könne erst ein freiwilliger Folgeschritt sein, der sich aus der staatlichen Selbständigkeit ergibt.

Der Drang verschiedener Völker Europas, ihre nationale Identität auch staatlich umzusetzen, hat aufgrund des national-politisch-wirtschaftlichen Komplexes die Schaffung neuer Feindbilder zur Folge. Wie die gegenwärtige Erfahrung zeigt, sind in ihrer materiellen Existenz bedrohte Völker nur allzu gern bereit, die von ihren neuen, auf der nationalistischen Welle schwimmenden Führern gezeichneten Feindbilder zu übernehmen.

Swiad Gamsachurdia, Georgiens Präsident, (Foto Seite 12) war einst ein im Westen geschätzter Dissident, der dem Kreml Paroli bot. Sein christ-1 icher Background trug dazu bei, gewisse Kreise im Westen für ihn günstig zu stimmen. Was ihm heute vorschwebt, ist ein nationalistischer Staat, in dem Minderheiten - wie die Osseten - keinen Platz haben. Gamsachurdia sieht „sein" christliches Georgien, aber auch die christliche Nachbarrepublik Armenien - wie er gegenüber der FURCHE bereits im Frühjahr dieses Jahres (Nummer 20/ 1991) feststellte - von den Moslems bedroht.

Nationalismus und Religion gehen in seinem Staats Verständnis ein Bündnis ein, das oppositionellen Strömungen,als solche werden auch „völkische Fremdkörper" wie die Osseten verstanden, kein Verständnis abgewinnen kann. Ein Fremdkörper in diesem nationalistischen Denken sind auch jene Intellektuellen, die als „Weltbürger" der Kleinstaaterei nichts abgewinnen können.

Das Sagen im neuen Ost-Europa haben heute die nationalen Kräfte. Der im Frühjahr 1991 vom slowakischen Parlament abgewählte Regierungschef Vladimir Meciar treibt nach wie vor mit seinen nationalistischen Bestrebungen alle anderen Parteien vor sich her und genießt bei den Slowaken höchstes Ansehen.

Die demokratisch ausgerichtete, föderalistisch gesinnte „Öffentlichkeit gegen Gewalt" des Parlamentspräsidenten Frantisek Miklosko hat kaum mehr Chancen, der christdemokratische Regierungschef Jan Carnogurs-ky dreht sich je nach nationalistischer Wetterlage ständig zwischen Konföderalismus (mit Prag) und totaler Unabhängigkeit der Slowakei.

Es gibt Versuche, den Weg aus dem beschränkten Nationalismus herauszufinden. „Regionalismus" ist die Antwort auf einen stärker werdenden

Zentralismus im EG-Europa, könnte auch Antwort auf die Ängste der zerfallenden Zentral- und Vielvölkerstaaten Ost-Europas sein.

Der Kämmer Slowene und derzeitige - offiziell nicht anerkannte - Vertreter Sloweniens in Österreich, Ka-rel Smolle, hat auf die Frage der FURCHE, wie er sich als „slowenischer Botschafter" mit österreichischem Paß fühle, geantwortet: „Als Europäermit einem ausgeprägten Regionalbewußtsein."

Diese An- und Einsicht ist der heutigen Zeit weit voraus. Momentan spielen in Europa Aufrechnungen von Längstvergangenem die Hauptrolle. Am weitesten geht Serbien zurück, wenn es ständig die im 14. Jahrhundert verlorene Schlacht auf dem Amsetfeld besingt und daran den Traum von einem neuerstehenden Großserbien knüpft. Die Völker Ost-Europas knüpfen in ihren Überlegungen - offenbar mangels an Visionen (der Westen hat ihnen ja auch jahrzehntelang nur den Nationalismus als jene Kraft anempfohlen, mit der sie sich vom kommunistischen Joch befreien könnten) - an „frühere" Zeiten und alte Vorbilder an.

„Wer sich mit der Geschichte auseinandersetzt, weiß, daß hinter dem .früheren' immernoch etwas früheres kommt", hat bei einem Treffen katho-lischer Publizisten Österreichs mit dem slowakischen Premier Cär-nogursky der Chef der österreichischen katholischen Nachrichtenagentur Erich Leitenberger im Hinblick auf die in Mittel- und Ost-Europa heute so übliche Rede vom „früheren Preßburg", vom „früheren Prag", vom „früheren Budapest" etcetera konstatiert; er wandte sich damit gegen jenen heute hoffähig werdenden Chauvinismus, der in jene historischen Tiefen gräbt, die ihm momentan genehm sind.

Das ist heute bei den Serben, bei den Armeniern, Georgiern, Aserbeid-schanem, Moldawiem (Rumänen), Ungarn und Slowaken.

Der Nationalismus ist heute eine staatsstiftende Kraft in Ost-Europa, seine Wirkmächtigkeit hat er aberauch im Westen nicht eingebüßt. Dieser Realität hat das sich integrierende Europa zur Zeit nichts entgegenzuhalten. Nicht Osteuropa, oder zusammenarbeitende föderative Staaten drängen ins EG-Europa, sondern viele neue Kleinstaaten, die zunächst wirtschaftliche oder gar politische Kooperation untereinander nicht wollen.

Vergangene Woche fand in Travemünde eine Begegnung von Kennern des Ostseeraumes mit Politikern aus dem Baltikum statt. Von Wirtschaftsfachleuten wurden die baltischen Teilnehmer vor Kleinstaaterei gewarnt, man plädierte für eine enge Zusammenarbeit Litauens, Lettlands und Estlands mittels einer gemeinsamen Fluglinie, gemeinsamer Industrienormen, freien Warenverkehrs und einer einheitlichen Währung. Der alte Hansegedanke sollte wieder zu Ehren kommen.

Die Politiker aus dem Baltikum waren demgegenüber sehr skeptisch. Sie meinten, daß zur Zeit gemeinsame, einheitliche Lösungen nicht möglich seien.

Die ehemalige litauische Ministerpräsidentin Prunskiene betonte, daß man in Zeiten des Aufbaus von Staaten und Nationen lebe, „ob das unseren westlichen Freunden nun gefällt oder nicht". Bei Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit stößt man zunächst auf nationalistischen Granit.

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