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Grenzgänge eines Europäers

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Für die Beseitigung von Grenzen ist mehr und andere Kraft vonnöten, als für deren Aufbau: die Kraft der individuellen Freiheit und Kreativität.

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Für die Beseitigung von Grenzen ist mehr und andere Kraft vonnöten, als für deren Aufbau: die Kraft der individuellen Freiheit und Kreativität.

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In der Zeit des Kommunismus wurde in Bratislava das Gerücht verbreitet, daß es in einem Wiener Museum eine Sonderabteilung gebe, in der Fahrzeuge ausgestellt sind, in denen die Flüchtlinge aus dem Osten die österreichische Grenze überschritten haben, um in den freien Westen zu gelangen. Dort sollte es einen aus Begenmänteln zusammengeklebten Ballon geben, in dem Ende der siebziger Jahre ein slowakischer Bürger die Grenze überflogen hat. Es sollte dort auch einen Hängewagen geben, in dem ein anderer Bürger der ehemaligen Tschechoslowakei die österreichische Grenze über die Hochspannungsleitung passiert hat. Genauso hätte es dort auch den durch einen Trabant-Motor angetriebenen Drachen geben können, mit dem es ein anderer Ostblockbürger bis zum Flughafen in Schwechat geschafft hat. Es hätte dort bestimmt viele Schlauchboote geben müssen, manche von ihnen durchgeschossen, mit denen die Leute über die March oder die Donau übersetzten.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus fragte ich meine österreichischen Freunde, ob es eine solche Ausstellung gibt, aber niemand hatte je von ihr gehört. Wahrscheinlich gibt es sie nicht, und das ist schade. Österreich kann nämlich stolz sein auf die Periode seiner Geschichte, in der es zum heißersehnten Ziel der Flüchtlinge aus den kommunistischen Ländern wurde.

Die umliegenden kommunistischen Begierungen haben damals in der vergeblichen Hoffnung, auf diese Weise an der Macht bleiben zu können, die Grenzen Österreichs mit Stacheldraht umzäunt. Die gesperrten Grenzen haben den Druck innerhalb der kommunistischen Länder nur gesteigert, genauso wie die Berliner Mauer ein klarer Beweis dafür war, daß die DDB ein Mißerfolg war. Weder Stacheldraht noch die Minenfelder konnten die Mutigen an dem Versuch, die Grenze zu überschreiten, hindern. Immer wenn sie es geschafft haben, war es ein Schlag für das kommunistische Regime. Über den Mann, der die österreichische Grenze in dem aus Regenmänteln zusammengeklebten Ballon überflogen hat, redete man wochenlang in Bratislava.

Obwohl uns die verdrahteten Grenzen frustriert haben, waren wir uns zweier Tatsachen bewußt, die unsere Frustration wenigstens gemildert haben: Wir waren es nicht, die die Grenzen verdrahtet haben, und wir waren es nicht, die die fremde Welt hinter unseren Grenzen gefürchtet haben. Ganz im Gegenteil. Es waren unsere Freunde, die die Grenzen in primitiven Ballons, Schlauchbooten und Hängewagen überschritten haben. Wir waren es, die in ihre Fernseh- und Radiogeräte die Ultrakurzwellenempfänger für die westlichen Sender montiert haben, als der technische Fortschritt den eisernen Vorhang an immer mehr Stellen durchlöchert hat. Wir haben vor der Welt hinter unseren Grenzen keine Angst gehabt, weil es unsere Welt war - die Welt der Freiheit, der Demokratie und der christlichen Kultur. Wir haben die Welt hinter den Grenzen auch deswegen nicht gefürchtet, weil wir gesehen haben, wie die Kommunisten sie fürchteten. Sie gaben viel Geld für die Empfangs-Störung des Senders „Radio Free Eu-rope” aus, und sie haben die Diskotheken verboten. Aber noch etwas gab uns Hoffnung: Wir sahen, daß der Aufbau und die Befestigung der Grenzen allmählich nachließen. Noch in den Fünfzigern wollten die Kommunisten ihre Revolution in die ganze Welt exportieren. Ihre Gegner, einschließlich der Christen, schienen vor der Revolution Angst zu haben. Doch versperrt hinter ihren Grenzen haben die Kommunisten ihren anfänglichen Elan allmählich verloren, während wir, ihre Gegner, unsere Revolution vorbereitet haben. Aus der kommunistischen Ära sind wir auch deswegen gestärkt hervorgegangen, weil wir geholfen haben, die Grenzen niederzureißen.

Wie ein Journalist treffend bemerkt hat, entstand der Kommunismus in einem Studiensaal des Britischen Museums, und nach 150 Jahren kehrte er wieder ins Museum zurück.. Mit dem Niedergang des Kommunismus verschwanden auch die von ihm geschaffenen Grenzen, aber es waren nicht die ersten und bestimmt auch nicht die letzten Grenzen. Die Grenzen haben viele Gemeinsamkeiten, und manches davon, was uns die kommunistischen Grenzen gelehrt haben, gilt auch für die künftigen.

Aus der kommunistischen Ära blieb uns die Lehre, daß alle Grenzen, die künstlich-administrativ errichtet worden sind, nie von Dauer sein können. Eine weitere Lehre aus den kommunistischen Zeiten sagt uns, daß es nur eine einzige wahrhaftige und beständige Grenze gibt, und zwar ist das die Grenze, die die Wahrheit von der Lüge und das Gute von dem Bösen trennt. Nur Grenzen, die von dieser Grundeinteilung abgeleitet werden, haben ihre Begründung, Beständigkeit und Festigkeit. Die Frage, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge und zwischen Gut und Böse liegt, beschäftigte seit jeher die Menschheit, es wurden sogar Kriege deswegen geführt. In den zwanziger und dreißiger Jahren hielten einflußreiche Gruppen westeuropäischer Intellektueller den Kommunismus für die Wahrheit und für das Gute, sie haben sogar die Moskauer Prozesse gutgeheißen. Der Erfolg der europäischen Geschichte beruht darauf, daß das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge vom Christentum geboten wurde. Der Aufstieg und der Fall des Kommunismus hat dieses Kriterium erneut bestätigt.

Hinter der Grenze, die jahrzehntelang den Westen vom Osten getrennt hat, blieb vieles verdeckt. Wir im Osten haben nur aus der Ferne und undeutlich die sich vertiefende und fortschreitende westeuropäische Integration betrachten können. Hinter der Stagnation und dem Zerfall des osteuropäischen Kommunismus blieb aber im Westen vielleicht die Tatsache verborgen, daß es auch östlich des Eisernen Vorhangs dynamische Gesellschaften gab, die sich nur vom Kommunismus befreien brauchten, um mit dem Einholen des Westens beginnen zu können. Die Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West wurde mit einer Freude begrüßt, die bis zum heutigen Tag überdauert hat. Die Begeisterung über die Grenzabschaffung in Europa wurde aber durch den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und durch die internen Probleme der Europäischen Union mit der Öffnung für neue Mitgliedstaaten gedämpft.

Die Erweiterung der Europäischen Union liegt wirklich im Interesse der Union selbst. Die Machtlosigkeit der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, wie wir sie vor allem im ehemaligen Jugoslawien beobachten konnten, ist Ausdruck der politischen Schwäche der Union. Die Erweiterung der Union vergrößert ihr Gebiet, vergrößert ihre Stärke, und es bestehen gute Chancen dafür, daß sie eine neue Dynamik erhält.

Der Prozeß der EU-Erweiterung wäre aber viel einfacher und schneller vorangegangen, wenn die antragstellenden Länder fähig gewesen wären, kompakte Gruppen zu bilden, die parallel zur Annäherung an die Europäische Union ihre eigene Integration vertiefen würden. In den Jahren 1992/93 wurde in den Zentralstellen der EU über die Aufnahme von neuen Mitgliedern in Gruppen gesprochen. Die Unfähigkeit der exkommunistischen Länder, ein eigenes Modell der Zusammenarbeit zu entwickelrf, ist eine sehr große Enttäuschung. Die Vertiefung der eigenen gegenseitigen Zusammenarbeit würde die Integration der exkommunistischen Länder in die schon bestehenden Integrationsgruppierungen beschleunigen. Doch der gegenseitige Handel zwischen den exkommunistischen Ländern stagniert oder fällt, die politischen Beziehungen sind lau. Gerade wegen der eigenen Unfähigkeit, sich zusammenzutun und einen attraktiven Partner für die Europäische Union darzustellen, müssen die antragstellenden Länder passiv warten, bis die EU ihre inneren Regeln der Aufnahme von neuen Mitgliedern anpaßt.

Die EU-Erweiterung ist unter ihrer Bevölkerung eher unpopulär, aber sie wird unvermeidlich sein. Eine Alternative gegenüber der Erweiterung wäre eine Befestigung der EU-

Außengrenze. Wie lange würde sie jedoch halten? Die politischen Anführer sollten Überzeugungsarbeit unter ihren Wählern leisten darüber, daß die EU-Erweiterung eine Investition ist, die sich auszahlt. Schließlich, für die Österreicher, lautet die Frage sehr einfach: Was ist für Österreich vorteilhafter: wenn die Außengrenze der EU von Wien 60 Kilometer oder 600 Kilometer entfernt ist?

Neben der EU-Erweiterung stellen die Beziehungen zwischen der EU und Rußland eine weitere Herausforderung dar, die den Stand der Grenzen in Europa beeinflussen wird. Rußland durchlebt momentan eine tiefe historische Krise, in die es der Kommunismus gestürzt hat. Rußland ist jetzt nicht einmal fähig, das Gebiet effektiv zu verwalten, das ihm übriggeblieben ist. Aber es wäre ein Feh -ler des Westens, wenn er die momentane Situation in Rußland ausnutzen und damit die Krise noch weiter vertiefen würde. Zu Beginn der beiden Weltkriege in diesem Jahrhundert unterschätzten die westlichen Großmächte die Stärke Rußlands. Wenn Rußland die eigenen Kräfte nicht reichten, um dem Druck des Westens standzuhalten, unterstützte es Feinde des Westens. In den Sechzigern beschleunigte Rußland den Dekolonialisierungsprozeß und das Verdrängen des Westens aus der Dritten Welt; in den Siebzigern rüstete es die Araber aus.

Jedoch die guten Beziehungen der EU zu Rußland sollten nicht nur aus Angst davor, daß sich Rußland gegen den Westen wenden könnte, folgen. Die russische Kultur ist eine europäische Kultur, und russische Geschichte ist ein Bestandteil und eine Verlängerung der europäischen Geschichte. Rußlands Boden verbirgt einen Beichtum, den die Menschheit für ihre Entwicklung im nächsten Jahrhundert brauchen wird. Die Russen bezeichnen ihre Naturschätze als die letzte Vorratskammer der Menschheit. Zur südlichen russischen Grenze drängen dieselben islamischen Fundamentalisten, die Frankreich Sorgen bereiten und die ein Teil des Teufelskreises in Bosnien sind. Es gibt tatsächlich viele Gründe dafür, daß es zwischen der Europäischen Union und Rußland zur strategischen Partnerschaft kommt.

Die Geschichte belohnt mehr diejenigen, die die Grenzen beseitigen, als diejenigen, die die Grenzen bauen. Vielleicht deshalb, weil für die Beseitigung der Grenzen oder wenigstens für ihre Überschreitung mehr Kraft benötigt wird als für das Bauen der Grenzen. Die Stärke des Westens basierte auf individueller Freiheit und Kreativität des einzelnen, die aus der christlichen Kultur gewachsen ist. Unter dem Druck dieser Kraft wurden erst vor kurzem die Grenzen niedergerissen, die der Kommunismus in Europa aufgebaut hat. Laßt uns diese Kraft weiterentwickeln, denn sie beschützt uns besser als jedwede Grenze. Ja, diese Kraft wird uns alle künstlichen Grenzen zu durchbrechen helfen, die jemand anderer um uns herum aufbauen würde.

Der Autor, ehemaliger slowakischer Premierminister, ist Chef der christdemokratischen Partei seines Landes. Bei dem Text handelt es sich um die stark gekürzte Fassung eines Vortrags, den Carnogur-skykürzlich hei einer Sommertagung des Katholischen Akademikerverbandes (KAVÖ) gehalten hat

FURCHE-Förderer Gebhard Koberger f

Der Alt-Propst von Klosterneuburg, Gebhard Ferdinand Koberger, ist vergangenen Samstag im Alter von 87 Jahren gestorben. Koberger war wesentlich am Wiederaufbau der Ordensgemeinschaft von Klosterneuburg nach der Aufhebung des Stiftes und der Vertreibung der Chorherren durch die Nazis beteiligt. Als Propst stand Koberger dem Stift von 1953 bis 1995 vor. Der Augustiner Chorherr nahm als Generalabt seines Ordens am Zweiten Vaticanum teil, war Vorsitzender der österreichischen Superiorenkonferenz und jahrelang Berater der österreichischen Bischofskonferenz. Maßgeblich war Koberger auch an der Gründung des österreichischen Bibelwerkes beteiligt.

Die FURCHE verliert mit Koberger einen langjährigen Förderer und Wohltäter, der sich insbesondere in seiner Zeit als Vorsitzender des Aufsichtsrates (1976-1990) tatkräftig für die Existenzsicherung dieser Zeitung eingesetzt hat. RM

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