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Zeit der Irrungen

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Die österreichischen Bürger im Jahre 1965 gedenken dankbar und verständnisvoll jener Generation von 1918, die dieses über Nacht zerschlagene und verkleinerte Österreich in schmerzenden Geburtswehen in eine neue Zeit getragen hat, ohne große Hoffnung — wie wir wissen — und geplagt vom Zweifel an die Existenzfähigkeit des neuen Staates. Wir Österreicher neigen uns heute mit Respekt vor den Opfern der Ereignisse von 1927 und 1934, vor den Toten und den Verfolgten auf beiden Seiten, ohne ihnen den Prozeß der Geschichte zu machen. Bewußt ist uns, wie sehr der innere Friede der letzten zwanzig Jahre, der innere Friede, der uns allen, die wir hier versammelt sind, zugute kam, mit dem Blut und mit den leidvollen Erfahrungen jener erkauft worden ist, die zwischen 1918 und 1938, dieser Zeit der Irrungen und Wirrungen, der inneren Zwietracht und der Mißverständnisse — um Österreich willen — zu Anklägern und Beklagten, zu Verfolgern und Verfolgten, zu Kämpfern und Besiegten wurden. Wir können schließlich den Geburtstag unserer Republik nicht begehen, ohne an die Zeit zu denken, da der Name Österreich von 1938 bis 1945 von der Landkarte Europas verschwunden war. In der Zeit vom 13. März 1938 bis zum 27. April 1945, in dieser Zeit der Unterdrückung all dessen, was an Österreich glaubte und an Österreich erinnerte, erwuchs diesem Volk ein neuer, verinnerlich-ter und vertiefter Glaube an sich selbst. „Blut, Schweiß und Tränen“, dieser Zoll, der nach einem berühmten Wort Churchills im Kampf um die Freiheit und um die Menschenwürde als Lösegeld von der Hitler-Tyrannei zu entrichten war, blieb auch diesem Volk, unserem österreichischem Volk, nicht erspart. Es wurde mannigfach entrichtet. Entrichtet von österreichischen Patrioten in den Konzentrationslagern der nationalsozialistischen Unterdrük-ker; er wurde entrichtet in den Vernichtungslagern von jenen österreichischen Mitbürgern, deren einziges Verschulden darin lag, der jüdischen Rasse angehört zu haben; er wurde entrichtet von Hunderttausenden von Österreichern, die in einen Krieg, der nicht der ihre war, wider ihren Willen hineingezogen wurden und aus diesem in ihre österreichische Heimat nicht mehr zurückgekehrt sind. Gerade in diesen Wochen, da junge

österreichische Menschen das erstemal in der Geschichte der Zweiten Republik, das erstemal in diesen letzten zwanzig Jahren, auf die Straße gingen, um für ihre Uberzeugung zu demonstrieren, gerade in diesen Wochen, da wir einen Toten als Opfer gewaltsamer Auseinandersetzung beklagen, ist es unsere Pflicht, diese Vergangenheit zu beschwören. „Niemals vergessen“ war das stille Versprechen der Österreicher aller politischen Uberzeugungen am Tage der Wiedererrichtung unserer Republik vor zwanzig Jahren. „Niemals vergessen“ nicht um der Rache willen, sondern einfach deshalb, weil sie auf Grund der leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit das kostbare Gut des inneren Friedens für ihre Kinder und Kindeskinder in eine bessere, schönere, österreichische Zukunft hineintragen wollten. Wir möchten den heute Zwanzigjährigen zurufen, diese Lektion der Geschichte, für die ihre Väter und Großväter sehr teuer bezahlen mußten, nicht in den Wind zu schlagen. Noch ist es nicht zu spät.

A. E. I. O. U. — Austria erit in orbe ultima —, dieses glaubensstarke, zukunftsfrohe, stolze Wort Friedrichs III., dessen Grabmal unser Stephansdom birgt, soll auch in unseren Tagen das uns alle beflügelnde Leitbild sein.Österreich wird bestehen — als unabhängiger, freier Staat — seiner selbst bewußt und vom Glauben an seine fortdauernde Mission erfüllt.

Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages im Jahre 1955 und dem Beschluß über seine immerwährende Neutralität hat Österreich einen seiner Größe und der militärisch-politischen Potenz dieses Landes entsprechenden Platz in der Völkerfamilie gefunden. Uns ist als Aufgabe gestellt, dieser Weichenstellung folgend, den Weg in die Zukunft zu beschreiten.

Österreich wird bestehen — als ein im Donauraum wirkender, stabilisierender Faktor, dessen Funktion für die Aufrechterhaltung des Friedens und der europäischen Sicherheit von den Großmächten im Osten und Westen, von unseren Nachbarstaaten und allen interessierten Mächten allgemein anerkannt wird.

Österreich wird bestehen — als eine Brücke der Völker zwischen Ost und West. Wie in der Vergangenheit ist auch in unseren Tagen unsere Bundeshauptstadt Wien eine Drehscheibe der hier aus allen Himmelsrichtungen einströmenden Ideen, aus dem Norden und Süden, dem Osten und Westen. Mögen auch derzeit nicht wegzuleugnende ideologische Gegensätze die Völker des Ostens und des Westens trennen, mögen auch tiefe Gräben unvereinbarer Weltanschauungen an den Grenzen unseres Landes verlaufen, wir Österreicher wollen die Menschen jenseits unserer östlichen Grenzen nicht vergessen, mit denen wir uns innerlich zutiefst verbunden fühlen. Unsere Bemühungen von heute, die dem Näherrücken der Völker dienen, bereiten für die Generationen von morgen den Dialog vor, der heute mit dem Gespräch von Mensch zu Mensch beginnen muß.

Österreich wird bestehen — weil die Österreicher aus ihrer Geschichte die Lehre gezogen haben und die Zusammenarbeit der politischen Kräfte in diesem Lande, das Mit-einanderwirken der Sozialpartner zum Wohle des Ganzen dem fruchtlosen inneren Zwist und der blutigen Auseinandersetzung vorzuziehen gewillt sind.

Österreich wird bestehen — weil die Österreicher an die wirtschaftliche Lebensfähigkeit dieses Staates glauben und nach den stolzen Leistungen und dem gelungenen Aufbauwerk der letzten zwanzig Jahre von der Vitalität und der Lebenskraft ihres Staates zutiefst überzeugt sind.

Österreich wird bestehen — weil es eine soziale Leistungsgemeinschaft sein will, die an die Stelle des Klassenkampfes die gemeinsame Arbeit zur Erringung des allgemeinen Wohlstandes, der allen Bürgern zugute kommen soll, setzt.

Österreich wird bestehen — weil es an die Talente, die Begabung und den Fleiß der jungen Österreicher glaubt und durch Eröffnung gleicher Bildungschancen dieser österreichischen Jugend den Weg zu größerem Wissen, größerer Leistung und damit zum allgemeinen Fortschritt öffnet.

Österreich wird bestehen — weil wir Katholiken nicht müde werden, im politischen Bereich für die Verwirklichung des christlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes einzutreten, damit in diesem Lande jenes gesellschaftliche Leitbild verwirklicht werde, das im „Mensehen“ den Träger und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sieht.

Wir stehen nunmehr am Beginn des dritten Jahrzehnts unserer Zweiten Republik. Zu neuen Aufgaben drängt uns eine neue Zeit. Wie dieses Werk der letzten zwanzig Jahre nicht denkbar ist ohne den perscnPchen Einsatz und die Opferbereitschaft aller Österreicher, nicht denkbar ist ohne die besonders hingebungsvollen Leistungen so vieler katholischer Männer und Frauen aus unseren Reihen, so wird auch die Zukunft, die vor uns liegt, nicht bewältigt werden können ohne das Vertrauen und die Hingabe, den Mut und die Entschlossenheit der jungen heranwachsenden katholischen Generation dieses Landes. Ich wende mich in dieser Stunde an diese katholische Jugend des Landes, um sie aufzurufen, dem Beispiel derer zu folgen, die 1945 mit Zuversicht und Gottvertrauen an die Arbeit gegangen sind, um uns allen eine schönere Heimat, eine schönere Zukunft zu gestalten. Wir wollen diesen verdienten Männern durch unsere Bereitschaft, die Geschicke dieses Landes in ihrem Geiste in unsere Hände zu nehmen, die Gewißheit geben, daß sie nicht umsonst zu Werke gegangen sind.

Und eines wollen wir heute laut und deutlich für alle in diesem Lande hörbar zum Ausdruck bringen: Für uns Katholiken ist die Republik nichts Fremdes mehr. Wir haben die Vergangenheit bewältigt. Die jungen Katholiken, die jungen Bürger dieses Landes haben die republikanische Integration vollzogen, die uns Katholiken den legitimen Anspruch gibt, zu sagen: Dieses Österreich, in seiner heutigen Form, in seiner republikanischen Form, ist unser Land, ist unser Staat. Wenn man uns Katholiken fragt: Seid ihr erfüllt vom Glauben an dieses Österreich, wie es jene waren, die vor zwanzig Jahren spontan zu Werke gingen, um die Ruinen blühend zu machen? So antworten wir ihnen:

Ja, wir glauben an Österreich.

Wenn man uns Katholiken fragt: Seid ihr erfüllt von Hoffnung für dieses Österreich, seid ihr zukunftsbewußt und tatenfreudig? So antworten wir ihnen:

Ja, wir sind erfüllt von Hoffnung für Österreich.

Wenn man uns Katholiken fragt: Seid ihr erfüllt von unbestechlicher und hingebungsvoller Liebe zu Österreich? So antworten wir ihnen:

Ja, unsere ganze Liebe gilt Österreich.

In dieser Liebe zu Österreich soll uns Katholiken in diesem Staate niemand übertreffen.

Gott segne und schütze die Republik Österreich.

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