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Österreich — eine Tradition?

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Es ist bekannt und hat sidi herumgesprochen: uns Jungen ist es nicht leicht gemacht worden. Wirtschaftskrisen, Putsche, der Zerfall einer Gesellschaftsordnung, das waren die Musen der Zeit an unserer Wiege. Die Feen, die unsere erste Jugend umgaben, hießen Bürgerkrieg, Klassen- und Rassenhaß. Es waren böse Feen. Der Weg, den sie wiesen, führte über die Straßen der Marschierer in den Schützengraben. Im Gefangenenlager, in der Registrierstelle wurde nicht mehr gesungen.

Wir sind keine Unschuldsengel. Wir haben die Schuld kennengelernt. Ob auch ganz einsehen, das ist eine andere Frage. Dazu aber braucht man mehr Kraft, als uns gegeben wurde. Die Kraft der Einsicht in die tieferen Zusammenhänge, fast die Stärke der Weisheit. Und noch etwas anderes: etwas Festes, Dauerhaftes, an das man sich halten kann.

Dieses Feste wurde uns nicht gegeben. Auf dem Gymnasium fiel uns einmal, es war reiner Zufall, der „Kirbisch“ von Anton Wildgans in die Hand. Diese gräßliche, grauenhafte, großartige Geschichte vom Zerfall der alten Welt, die übrigens soeben verfilmt worden ist. Daß dieser Wildgans auch noch ein anderes dazu gesagt hatte, in seiner Rede über Österreich, das fiel uns nicht mehr zu. Es war nicht eigentlich verboten, zuerst sicher nicht, dann sprach man nicht mehr davon.

So begannen wir heranzuwachsen. Sehr in den Tag hinein, wie wir jetzt zu wissen glauben. In einen furchtbaren Tag. Da war wohl der Religionsunterricht. Daß er so manchen von uns nicht viel zu geben wußte, ist eine andere Frage. Den Glauben an Gott haben wir wohl gefunden, viele von uns, so nach und nach, auf den verschiedenen Wegen unseres Lebens.

Ein junger Mensch braucht aber auch den Glauben an die Menschen. Auf gut deutsch heißt das: an eine mögliche irdische Ordnung. Nicht an .den Staat“ vielleicht, doch an ein Volk, als Nation, an eine politische Ordnung, mit Sinn und Sein und Sendung, da, wo wir in unserem Leben stehen. Wie dieser Glaube mißbraucht wurde, ist bekannt. Als die Trommeln immer lauter geröhrt wurden, trat einer nach dem andern von uns in ihre Reihen. Oft waren es ganze Haufen.

Blieb nicht viel zurück.

Die Suche aber geht weiter. Nach etwas Festem, Dauerhaftem. Nach der Idee und Wirklichkeit einer echten politischen Ordnung. Nach dem Sinn unseres Lebenskampfes hier, gerade hier, auf diesem kleinen geographischen Fleck Erde, und eben nicht anderswo, zweihundert, zweitausend, zwanzigtausend Kilometer weiter östlich, westlich.

Ein Zeitungsblatt bleibt in der Hand. Das ist selten, meist wird es schnell weggelegt. Der Bundespräsident appelliert an die österreichische Jugend. Einige Sät halten uns fest:

Wir haben gelernt, daß alle Ehrwürdigkeit veralteter Einrichtungen diese nicht davor bewahrt, für Gegenwart und Zukunft wertlos zu sein. Wir haben gelernt, daß aller nationale Chauvinismus zu Katastrophen führt. Heute urteilt die ganz Welt über das alte Osterreich als ein vielnationales Gemeinwesen anders als seinerzeit und gesteht zu, daß es für Europa, für die Welt und so auch für die damals beteiligten Völker des Reiches selbst weitaus wertvoller war als das, was aus der Katastrophe geworden ist!

Und so sind wir — durch Erfahrung klüger — Anwälte eines anderen Europa geworden, einer neuen wahrhaften Gemeinschaft aller europaischen und darüber hinaus der Nationen der Welt.

Es ist gut, daß das jetzt gesagt wird. Gerade jetzt. Es ist auch höchste Zeit, daß es heute gesagt wurde und von dieser Stelle aus. Wir Jungen wollen wissen, müssen wissen, wo und wofür wir heute 6tehen.

Wohl lasen wir, und immer öfter rn den allerletzten Jahren, ausländische Stimmen über das alte Österreich. Uber einen guten, rechten Sinn des .multinational empire“, wie es ein Professor drüben jenseits des Atlantik in zwei dicken Wälzern soeben dargetan hat. Nicht ohne Staunen und eine gewisse scheue Verwunderung lasen wir, was da und dort, dort und da, schwarz auf weiß in großen Lettern steht: in eben diesem zerrissenen, zerquälten Europa und gerade in seinem zerschundensten Teil gab es, und das ist gar nicht so lange her, eine große, echte, politische Ordnung, in der viele Völker verschiedener Herkunft, verschiedenen Glaubens, verschiedener Wirtschafts- und Sozialordnung lebten, unter einer Verwaltung, deren Rechtlichkeit und Rechtschaffenheit heute nahezu unwirklich wirkt, in einer Freiheit, die heute viele von uns kaum zu erträumen wagei..

Das schreiben Menschen in anderen Zonen und Breitegraden. Keine Monarchisten. Die Monarchie, als Uberbau wie als tragende Staatsform, ist ihnen fremd. Die alte Ordnung des Vielvölkerstaats haben sie aber zum Teil noch selbst erlebt und staunend wiedergefunden, in verwandter Gestalt, jenseits der Meere. Was sie aber so stark uns verbindet, ist die Erfahrung der Zwischenzeit: der Unordnung, des Zerfalls, der „Liquidierung“, chaotischer Verhältnisse.

Es ist gut, daß es diese Stimmen draußen gibt. Es war hohe Zeit, daß sie von innen her aufgenommen und einbekannt wurden. Von oberster Stelle. Man ist sich also, so hoffen wir, klar darüber geworden: in einem Vakuum kann Österreichs Jugend nicht leben. In einem Leerraum ersticken wir. Wir müssen über die Grenze gehen, müssen äußere oder innere Emigranten werden, wenn das Leben hier an sich nicht sinnvoll ist, weil es sinnvoll war, weil das, was hier in Jahrhunderten gebaut wurde, Fundamente enthält, auf denen Zukunft stehen kann. Nicht für uns allein. Für ganz Europa. Für eine Welt der Rechtsordnung, der Freiheit, der Demokratie, der Menschlichkeit.

Wir wollen bauen und wir wollen wissen, wo unser Platz ist. Nach Jahren des Zweifels, der Unsicherheit greifen wir ein Festes, gewinnen Boden unter unseren Füßen. Es ist der Boden dieses unseres Landes, und es ist seine alte völkertragende und bindende Ordnung, die zu erneuern uns aufgegeben ist. Kein Schauen und Schielen nach West und Ost kann uns helfen.

Es ist Herbst. Vielleicht ein Spätherbst Europas. Wir beginnen aber, durch seine Nebel hindurchzusehen. Wir, in unserem kleinen Lande, sind nicht die Welt, sind nicht Europa. Wir haben aber beiden etwas zu bringen: den Gedanken und den

Willen zu einer großen europäischen Ordnung, in deren Dienst unser Land geworden ist.

Es ist eben diese Idee des nationalen und sozialen Ausgleichs einer viele Gegensätze überwölbenden Gerechtigkeit, die uns, die österreichische Jugend, einfordert. Aus dem recht verstandenen Alten will das Neue wachsen. Tradition ist kein Mummenschanz mehr, kein Scherz und keine Maskerade.

österreichlstdieVerpflich-tung auf eine lebendige Uberlieferung. Auf das Weitertragen ewig gültiger Werte. Wir beginnen das Feste zu fassen.

Nichts soll uns abhalten, auf diesem Grunde zu bauen, in unseren Grenzen das Werk zu beginnen, das hinauswirkt und stündlich an Leuchtkraft gewinnt. „Österreich ist keine Kolonie“, so riefen die Besten von uns im bitteren März 1938. Österreich kann als Protektorat nicht bestehen, und sei es auch das einer so großen Schutzmacht wie der UNO. Wenn wir an unser Land selbst nicht glauben, hat es keinen Sinn, es von fremden Polen aus Kalten zu wollen. Darum ist es so wichtig, daß gerade jetzt Österreichs junge Generation sich selbst findet: an ihrer Heimat, in ihrem Lande, an seiner Idee. Das eine Österreich will wachsen: aus der Vergangenheit in die Zukunft.

In schweren Jahren haben wir es in der Dichtung gesucht, bei unserem Stifter: „das Unzerstörbare“. Heute lernen wir es aus den Wirren unserer Zeit: das Unzerstörbare west nicht nur im Idealischen, im Reich der Kunst, sondern auch im Realen. Die große, völkerverbindende alte Ordnung unseres Landes trug Elemente dieses Unzerstörbaren in sich. Dieses wird heute wieder sichtbar, hinter den Galgen der Volksgerichtshöfe, über den Schlachtfeldern.

Österreichs Vergangenheit istdieAufgabeunsererGegen-wart: mit anderen Mitteln und

Methoden, auf teilweise anderen Wegen, in einem noch gröBerenRaumewartetsieauf uns.

In ihr finden wir den Platz und den Sinn für unsere Arbeit, die Rechtfertigung des Leides und den Ansporn zu seiner Uberwindung. In der Kraft der Selbstbesinnung auf die eine große Tradition schicken wir uns an, einen neuen Schritt zu tun: in Österreich, für Europa.

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