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Schleichpfade nach Europa

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Am 24. Juni soll das EYVR-Abkommen in Salzburg unterzeichnet werden. Die EG-Kommission will ihr Gutachten zum Beitrittsgesuch Österreichs bald fertiggestellt haben. Schweden beabsichtigt sein Beitrittsgesuch zur EG vorzulegen. Handels- und Kooperationsverträge der EG mit mittel- und osteuropäischen Ländern sollen Ende des Jahres in Kraft treten.

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Am 24. Juni soll das EYVR-Abkommen in Salzburg unterzeichnet werden. Die EG-Kommission will ihr Gutachten zum Beitrittsgesuch Österreichs bald fertiggestellt haben. Schweden beabsichtigt sein Beitrittsgesuch zur EG vorzulegen. Handels- und Kooperationsverträge der EG mit mittel- und osteuropäischen Ländern sollen Ende des Jahres in Kraft treten.

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FURCHE: Gibt es so etwas wie eine Konzeption für die Zukunft unseres Kontinents?

NORBERT KOHLHASE: Von Timothy Gordon Ash stammt die Anmerkung, daß politische Systeme, die sich überholt haben, nicht in schöner Ordnung liquidiert werden und sich nach allen Regeln der Courteoi-sie von der Weltgeschichte verabschieden, sondern ein gehöriges Maß an Unordnung und Desorientierung hinterlassen. Auch für den Aufbau einer neuen politischen Ordnung gilt, daß man sie nicht nach aristotelischen Kategorien entwerfen kann. Das „gemeinsame europäische Haus”, wie es Gorbatschow als erster genannt hat und worunter im allgemeinen Sprachgebrauch eine „neue europäische Architektur” verstanden wird, verleitet ja zu der Annahme, es werde sich jetzt einmal ein genialer Designer einen Entwurf einfallen lassen, der dann mit Hilfe einer Blaupause sorgfältig in eine neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung umgesetzt wird. Geschichte vollzieht sich aber nicht in dieser Form.

Die „Europäische Konföderation”, wie sie der französische Präsident genannt hat, entsteht nun einmal nicht per Dekret und auch nicht in der Art, wie man einen Club gründet. Es geht dabei um etwas so Grundlegendes wie den Aufbau von zivilen Gesellschaften, das heißt um die Neubestimmung des Verhältnisses der Bürger zu ihrem Staat und um die Rolle des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, also um ein anderes Politik- und Staatsverständnis schlechthin. Es geht um die Abtragung einer horrenden Hypothek und um Gegenwartsbewältigung.

Veränderungen von so komplexer Art erfordern ein dichtes Netz gegenseitiger Beziehungen und gemeinsamer Vorhaben, und da kann in der Tat der Eindruck entstehen, als ob zwar vieles in Bewegung und in Beziehung zueinander geraten sei, ohne daß irgendwo eine verbindliche Konzeption sichtbar wäre.

FURCHE: Auch wenn eine endgültige Form der europäischen Konstruktion wie auch der EG noch nicht absehbar ist: Worauf sind denn die laufenden Verhandlungen gerichtet?

KOHLHASE: Es geht dabei um drei große Aufgabenkomplexe. Dazu gehört zunächst einmal die Herkulesarbeit der Umstellung von Zen-tralverwaltungswirtschaften, also von kommunistischer Planwirtschaft, in die Marktform der Privatwirtschaft, Das bedeutet die Ablösung von vertikalen Entscheidungshierarchien der Nomenklatura durch horizontale Entscheidungsstrukturen zwischen Marktbürgern, Investoren und Unternehmern. Ob das in einem Schub, dem „big bang” geschehen soll oder schrittweise und dann in welchem Tempo, gehört zu den strittigen Fragen, die heute von Wirtschaftspolitikern bei uns und in diesen Ländern diskutiert werden.

Das zweite ist die Einfügung dieser neuen Marktwirtschaften in das System der Weltwirtschaft, konkret gesagt: die Ersetzung des notleidenden Handels zwischen den ehemaligen RGW-Ländern und der Sowjetunion durch einen konkurrenzfähigen Export in die Wirtschaften des Westens.

Und drittens geht es um die Frage der Umstellung ihrer Währungen auf harte, stabile und konvertible Währungen. Hier entsteht die Frage, an welcher Leitwährung diese „Länder im Wandel” ihre Paritäten orientieren werden.

Faßt man diese neuen Aufgaben einmal mit einem Blick zusammen, so handelt es sich um nichts weniger als um einen säkularen Entwicklungsschub, um regelrechte Mutationen ganzer Gesellschaften und ihrer bisherigen Struktur. Für die Länder Westeuropas ist dies eine der größten Herausforderungen seit Jahrzehnten.

FURCHE: Läßt sich mittelfristig eine Entwicklung absehen, die weder durch Pessimismus verzerrt noch durch übersteigerte Erwartungen belastet wird?

KOHLHASE: Absehbar ist, daß die zentraleuropäischen Länder (Polen, Tschecho-Slowakei und Ungarn) durch verbindliche Assoziationsverträge mit der EG verbunden sein werden. Das ist zwar noch nicht der volle Beitritt, den sie sich dringlich wünschen, aber doch eine Vorform, die die Apassung erleichtert und ein Gefühl der Absicherung durch Westeuropa vermittelt.

Für die südosteuropäischen Länder - also Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien, Albanien - wird dieser Prozeß länger dauern, aber eines Tages auch von ihnen vollzogen werden, denn

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Für Österreich und Schweden ist der EWR ohnehin nur eine Art Lern- und Angewöhnungsprozeß... '.' tt auch sie erstreben eine Annäherung an die Gemeinschaft. Und was die Sowjetunion betrifft, so wird man zunächst die innere Entwicklung des Landes abwarten und inzwischen alle Möglichkeiten bereithalten müssen, die auch für dieses Land die Verbindung zu Europa erleichtern werden.

FURCHE: Welche Funktion hat der entstehende Europäische Wirtschaftsraum in dieser Entwicklung?

KOHLHASE: Zunächsteinmal deuten alle Anzeichen daraufhin, daß die beiden Verhandlungspartner, also die EG und die EFTA-Staten, entschlossen sind, diese Verhandlungen erfolg; reich abzuschließen, den größeren Binnenmarkt so funktionsfähig wie möglich zu machen, also nicht durch gravierende Ausnahmen zu verwässern, und ihn 1993 in Kraft treten zu lassen. Daß es dabei Schwierigkeiten für einzelne Vertragsparteien gibt, etwa für die Schweiz, ist kein Novum in den Beziehungen der EG mit Drittländern. Übrigens entstehen Schwierigkeiten ja auch für die Gemeinschaft selbst, denn eine Konstruktion mit 18 Mitgliedern ist naturgemäß noch schwieriger zu einer politischen Union zu integrieren als mit den gegenwärtigen zwölf. Aber es gehört zur Natur der Politik, daß sie kon-flikthaltig ist, und die ganze angelernte Verhandlungskunst der Gemeinschaft besteht darin, solche Konflikte aufzulösen, abzuschwächen oder, wenn das nicht gelingt, ihre Konsequenzen wenigstens erträglich zu machen.

FURCHE: Ist die Situation für die Schweiz angesichts dieser Entwicklung nicht um einiges schwieriger als für andere EWR-Länder?

KOHLHASE: Das sehe ich als NichtSchweizer auch so. Zunächst einmal ist für Österreich, Schweden (und vielleicht sogar für Norwegen und Finnland) der EWR ohnehin nur eine Übergangsphase, eine Art Lern-und Angewöhnungsprozeß für die künftige volle Mitgliedschaft mit allen ungeschmälerten Rechten und Pflichten.

Für die Schweiz ist das nicht unbedingt eine Option, die sich ohne weiteres realisieren läßt. Schon die Frage, ob der EWR-Vertrag ihrem Selbstverständnis nach akzeptabel ist und angesichts ihrer langen historischen Erfahrung, die anderen Wegen verdankt wird, überhaupt als wünschbar angesehen wird, beschäftigt heute selbst manchen Verantwortlichen unter den Schweizer Unterhändlern. Und ob man in der Konsequenz dann lieber gleich den Beitritt zur EG ins Auge fassen oder eine Form der Zwischenlösung versuchen sollte, das sind für die Eidgenossen offenbar heikle Gegenstände der Selbstprüfung.

Vielleicht kann man sagen, daß dieses Land zum erstenmal seit der Gründung der Gemeinschaft sich unfreiwillig mit der Frage beschäftigen muß, ob seine eigene Identität mit der Entwicklung der EG vereinbar ist oder wie sie zumindest vereinbar gemacht werden kann. Möglicherweise ist dies einer der Augenblicke in der Geschichte des Landes, in dem man das Selbstverständnis vom „Schweizer Sonderweg” aufgeben wird und sich einer Konstruktion zuzuwenden beginnt, an der man von Anfang an aus wohlerwogenem Eigeninteresse nicht mitgewirkt hat.

FURCHE: Hat diese Schwierigkeit auch mit dem Status der Neutralität zu tun?

KOHLHASE: Ich halte auch nach den grundstürzenden Veränderungen in Europa die Frage nach dem Sinn der Neutralität nach wie vor für eines der zentralen Probleme, aber ich bin mir auch bewußt, daß sich dazu sehr unterschiedliche Auffassungen denken lassen. Österreich zum Beispiel hat ja in seinem Beitrittsantrag - allerdings vor dem Zusammenbruch der totalitären Regime - ausdrücklich und unmißverständlich einen Neutralitätsvorbehalt gemacht und ihn, was die Sache noch bedeutsamer macht, als nicht-negoziabel erklärt. Der Vorbehalt kann also, nach österreichischem Verständnis, nicht Gegenstand von Verhandlungen mit der EG sein. Nach 30 Jahren Erfahrung in der Gemeinschaft scheint mir dieser Neu-tralitätsvorbehalt zwar vertretbar, weniger aber die Auffassung, daß er nicht verhandelbar sei. Dazu werden sich Kommission und EG-Rat zu gegebener Zeit äußern müssen.

Tatsächlich hat der Begriff der Neutralität in den letzten beiden Jahren einen entscheidenden Bedeutungswandel erfahren. Bei vielen Vertretern neutraler Länder, vor allem in Schweden, hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß zumindest die sicherheitspolitische Funktion der Neutralität in ihrem Wesen verändert, gemindert, wenn nicht überhaupt erloschen ist. Dennoch bleibt die Neutralität als politischer Vorbehalt nach wie vor relevant, worüber uns die Erfahrung des Golfkrieges und seine Folgen für das internationale System belehrt haben.

Es wird wahrscheinlich in Zukunft häufiger als bisher Kollektivaktionen unter der Verantwortung der UNO geben, von deren Beteiligung sich ihre Mitglieder nicht ohne weiteres dispensieren können. Selbst wenn es also richtig wäre, daß die militärische Konfrontation in Europa hinfällig geworden ist, so bleiben bedauerlicherweise zahlreiche Konfliktherde in unserer Welt auf absehbare Zeit bestehen, und es würde einen großen Unterschied ausmachen, ob eine erweiterte EG unter ihren Mitgliedern auch neutrale Länder hätte, die sich an politischen Aktionen nur zögernd oder gar nicht beteiligen könnten. In dieser strittigen Frage halte ich an der Vorstellung fest, daß die Europäische Gemeinschaft auch außenpolitische und sicherheitspolitische Kompetenzen übertragen bekommen muß, für deren Wahrnehmung das konsequente Geltendmachen der Neutralität durch Mitglieder in ihrem Innern ein Hindernis wäre.

Die Diskussion hierüber wird sicher sehr bald mit neuen Argumenten geführt werden, an der sich dann auch die Länder beteiligen, die bisher ihr eigenes Schicksal mit dem der Europäischen Gemeinschaft noch nicht identifizieren konnten.

Mit Dr. Norbert Kohlhase, Hon.-Direktor der EG-Kommission in Brüssel, sprach Felizitas von Schönborn.

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