Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Österreichisch, europaisch denken!
In dieser Phase weitgehender Unklarheit und Unsicherheit in der Integrationsfrage wäre es vermessen und verantwortungslos zugleich, konkrete Äußerungen machen zu wollen. Es muß einmal in aller Deutlichkeit klargestellt werden, daß in diesem Stadium der Integration niemand wirklich etwas Verbindliches zu sagen vermag. Allein die Vielfalt der Stimmen aus dem Lager der EWG beweist, daß man dort noch lange nicht zu einer einheitlichen Meinung gefunden hat, besonders was die Haltung gegenüber den drei europäischen Neutralen betrifft. Man sollte daher alle derartigen Enunziationen nicht auf die Goldwaage legen, sondern sich einen klaren Kopf bewahren und in Ruhe abwarten. Dies verpflichtet allerdings dazu, daß auch von österreichischer Seite möglichst wenig zur Verwirrung beigetragen wird. Auch für uns sollte gelten, daß gegenwärtig Schweigen Gold ist.
Es kann nur eine große Richtlinie geben: Österreichisch denken — und möglichst wenig reden! Die Frage der Integration ist zu ernst, um in den Parteienstreit gezogen zu werden. Gerade jetzt, da sehr früh ein Wahlkampf anzulaufen scheint, ist die dringende Bitte an die Verantwortlichen in allen Parteien zu richten, die Einstellung zur europäischen Integration nicht zum Politikum zu degradieren. Es handelt sich hier um eine Existenzfrage der österreichischen Wirtschaft auf viele Jahre und Jahrzehnte hinaus, die nur im österreichischen, nicht aber in einem parteipolitischen Geist behandelt werden sollte. Der Standpunkt Österreichs muß eindeutig und einheitlich sein, sonst würde uns das Ausland auf die Dauer nicht ernst nehmen. Daher muß eine klare, abgestimmte Marschroute für alle Meinungsäußerungen vorhanden sein, die vor allem unseren diplomatischen Vertretungen im Ausland die Möglichkeit gibt, den Standpunkt Österreichs so unmißverständlich wie möglich zu interpretieren. Die österreichische Diplomatie wird in der nächsten Zeit eine neue Bewährungsprobe zu bestehen haben; die Industrie ist sicher, daß sie, gestützt auf die ehrwürdige Tradition unserer in schwersten Zeiten bewährten Außenpolitik, dieser auch gerecht werden wird.
Daß in diesem Stadium wenig wirklich Konkretes gesagt werden kann, ist einfach zu erklären: Die Entwicklung innerhalb der EWG wird durch vielerlei Faktoren bestimmt. Was die Einstellung zu den drei Neutralen betrifft, so ist nach allen Anzeichen wohl anzunehmen, daß zuerst d^s Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ge-
klärt werden muß, ehe weitere Schritte unternommen werden können. Man sollte sich in dieser Hinsicht nicht allzu optimistischen Erwartungen hingeben, geht es doch nicht allein um die britische Stellung zur EWG, da auch die weltweiten Verbindungen Großbritanniens 2U den Ländern des Commonwealth mitberücksichtigt werden müssen. Weiter ist auch auf die allgemeine außenpolitische Entwicklung im großen Rahmen des Ost-West-Verhältnisses Bedacht zu nehmen. Wer also jetzt Prophezeiungen wagt, kann kaum erwarten, sehr ernst genommen zu werden. Es mag schmerzlich sein, muß aber wohl gesagt werden: In dieser Situation gibt es nur ein sorgfältiges Abwägen und Abwarten, ein schärfstes Beobachten aller Vorgänge um uns unter Berücksichtigung der politischen Verpflichtungen Österreichs, zugleich aber auch die Entschlossenheit, durch Maßnahmen der Politik in Österreich selbst uns mit allen Kräften für jenen Tag zu rüsten, der uns in den größeren europäischen Markt hineinführen wird.
Das Bestreben Österreichs muß jetzt vor allem dahin gehen, möglichst bald die U n-sicherheit zu beseitigen, die alle weiteren wirtschaftlichen Dispositionen erschwert. Vergessen wir doch nicht, daß der Prozeß der Integration der europäischen Volkswirtschaften weit über den Bereich der Zoll- und Handelspolitik hinausreicht und faktisch alle Gebiete der Wirtschaft erfaßt. Die Entscheidungen der österreichischen Industrieunternehmungen müssen diesen Vorgängen Rechnung tragen. Am 15. Dezember 1961 haben bekanntlich die drei Neutralen um Verhandlungen über eine engere, dauerhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EWG angesucht. Damit ist nach Meinung der Industrie ein wichtiger, wenn auch nur formaler Schritt in der Richtung der Schaffung eines großen Marktes getan. Daß Österreich diesen Schritt zusammen mit den beiden anderen Neutralen eingeleitet hat, erscheint uns richtig und vernünftig. Die Regierungsexperten der drei Länder, Schweden, Schweiz und Österreich, haben die neutralitätsrechtlichen Aspekte so weit koordiniert, daß unter dem Titel „Neutralität“ die drei Staaten bei künftigen Verhandlungen gleichlautende Förderungen an die EWG stellen werden. Dennoch glauben wir, daß über gewisse Detailfragen vielleicht gesonderte Verhandlungen zu führen sein werden, da ja die Situation der drei Länder verschieden ist.
In diesem Zusammenhang ist es notwendig, darauf hinzuweisen, daß die österreichische Industrie in der Integrationspolitik von allem
Anfang an eine klare Linie verfolgt hat, die, unter Berücksichtigung der verschiedenen Zwischenstadien, das eine große Ziel, nämlich die Schaffung eines europäischen Marktes, der alle freien Länder unseres Erdteils umfaßt, anvisierte. Als sich endgültig erwies, daß ein multilaterales Arrangement zwischen der EWG und der EFTA, die von der Industrie stets nur als Übergangslösung angesehen wurde, nicht zustande kommen werde, wurde der Entschluß Großbritanniens, um eine Mitgliedschaft bei der EWG anzusuchen, begrüßt, weil mit diesem Schritt der Regierung Macmillan Bewegung in die bis dahin erstarrten Fronten der Integrationsverhandlungen kam. Natürlich kann es in einer so schwerwiegenden Frage nicht in allen Details eine Meinung der Industrie schlechthin geben, weil jede Branche, ja vielfach jedes einzelne Unternehmen, ihre bzw. seine eigenen Probleme hat. Es geht nur darum, daß über die große Linie Einvernehmen besteht, und dieses ist tatsächlich vorhanden. Erfreulicherweise gibt es im Grundsätzlichen weder zwischen den Koalitions-noch zwischen den Sozialpartnern schwerwiegende Differenzen, denn alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen unseres Landes sind sich darin einig: Die Erhaltung der wirtschaftlichen Stabilität und des sozialen Friedens ist in einem geopolitisch so exponierten Land wie Österreich das oberste Gebot, dem alle anderen Erwägungen untergeordnet werden müssen.
. Im Zuge eines Arrangements mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, über dessen Form noch nichts ausgesagt werden kann, muß die österreichische Industrie Übergangsfristen verlangen, die ihr eine Anpassung an die neuen Gegebenheiten gewährleisten, wobei sie das Jahr 1970 als Endtermin ins Auge faßt. Das Verlangen nach einer generellen längeren Übergangsfrist, in deren Verlauf sukzessive Zölle und noch bestehende Kontingente abgeschafft werden, hat sich als richtig erwiesen, reichen doch die zu erwartenden Über-gangsschwierigkeiten mit ganz wenigen Ausnahmen quer durch alle Zweige der Industrie, ja selbst durch kleinere Gruppen von Unternehmen mit gleichem Erzeugungsprogramm.
Eines sollte man aber nicht vergessen: In einer Marktwirtschaft — und die Integration vollzieht sich im marktwirtschaftlichen Gleis — entscheiden schließlich die Unternehmerpersönlichkeit und ihre Initiative. Alle Schwierigkeiten werden zu überwinden sein, wenn man dieser Unternehmerinitiative eine freie Entfaltungsmög-
lichkeit bietet.,,Die. Wirtschaftspolitik sollte es
nu^Pt* als ffr wic'ltiSste Aufgabe ansehen, ,',pufcli eine Anregung der Unternehmerinitiative zu einer Stärkung der Wirtschaft, zur Steigerung des Sozialprodukts und damit zur Erhaltung unserer Wettbewerbsfähigkeit beizutragen. Alle jene Maßnahmen, die uns die Aufrechterhaltung eines hohen Investitionsvolumens, ja sogar dessen Steigerung ermöglichen, sind vordringlich und sollten ebensowenig wie die grundsätzliche Einstellung zur Integration zum Politikum werden. Es geht ja nicht um den N a c h h o 1-, sondern um den Zukunft s-bedarf an Investitionen. Von gleicher Bedeutung sind die gesetzlichen Vorkehrungen zur Stärkung unseres Exports, auf den Österreich in hohem Maße angewiesen ist. Die österreichische Industrie hofft, daß vor allem die so lebenswichtige Verlängerung der Umsatzsteuerrückvergütung in den nächsten Wochen im Parlament verabschiedet werden wird, damit sie in Ruhe und ohne jedes Unsicherheitsmoment ihre Dispositionen auf längere Sicht treffen kann. Die Erhaltung bzw. Steigerung unserer Wettbewerbsfähigkeit setzt auch voraus, daß der Staat eine maßvolle Budgetpolitik treibt, die auf die Leistungsfähigkeit unseres Landes Rücksicht nimmt. Man kann eben nicht alles auf einmal verlangen, und die Forderung des Herrn Finanzministers nach einer Rangordnung der Prioritäten in den Anforderungen an den Staatshaushalt ist nur zu berechtigt und wird von der Industrie unterstützt.
Wenn die Industrie einen besonderen Wunsch hat, so den, es möge in den kommenden Wochen und Monaten trotz Wahlkampfstimmung bedacht werden, daß die Probleme der Integration nicht nur ein beliebtes Thema für Leitartikel und ,,Sonntagsreden“ sind, sondern daß es sich hier um mehr handelt. Die Entwicklung in Europa, vor allem innerhalb der EWG, beweist, daß der Integrationsprozeß kaum mehr rückgängig zu machen ist. Auch Österreich hat alles Interesse daran, von dieser wirtschaftlichen Verschmelzung der Länder des freien Europa nicht ausgeschlossen zu werden. Es will und kann sich nicht in eine Außenseiterstellung drängen lassen, nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus traditionsbedingten Gründen, da unser Land geistig eng mit dem westlichen Europa verbunden ist. Jedes wirtschaftliche Arrangement mit der EWG muß aber auch der politischen Stellung Österreichs Rechnung tragen, und es ist erfreulich, zu wissen, daß verantwortliche Männer aus dem EWG-Raum, allen voran der deutsche Bundeswirtschaftsminister Erhard, diese besondere Situation unseres Landes kennen und auch verstehen. Jede unnötige Dramatisierung kann in dieser Phase nur schaden, ein Weniger an Worten ist besser als ein Zuviel!
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!