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Neues von der Integration

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Die Entwicklung der wirtschaftlichen Integration des freien Europa ist ein klassisches Beispiel für die Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, um sich über den realen Sachverhalt zu orientieren. In einem Zeitalter der Reklame und Interessentenpolitik, in dem eine übertriebene Agitation widerspruchsvolle Thesen verbreitet und wichtige Informationen in einer Fülle tendenziöser Nachrichten untergehen, ist es gerade in Wien, das bei der heutigen Konfiguration weit im Osten, unmittelbar vor dem Eisernen Vorhang, liegt, nicht leicht, ein Bild über die täglichen Manöver und Wendungen, die langfristigen Strömungen und Aussichten zu gewinnen. Außerdem zeigen die eigenen Interessen, Hoffnungen und Erwartungen manche Gegensätze, denn das freie Europa wird heute von einem Handelskrieg heimgesucht, den das diplomatische Protokoll höflich als „Diskriminierung“ bezeichnet.

Die wirtschaftliche Integration findet daher auf zwei verschiedenen Ebenen statt: der EWG und der EFTA. Erst die Einigung zwischen London und Brüssel, sowie der Beitritt anderer Staaten und eine Assoziierung der Neutralen können eine Periode echter Integration einleiten. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, gegenwärtig im wesentlichen auf Frankreich, Italien und Westdeutschland beschränkt, umfaßt knapp 56 Prozent der Bevölkerung des freien Europa. Schon eine Übersicht über die Einwohnerzahlen der großen, kleinen und mittleren Staaten beweist, daß Brüssel seinen Anspruch, für ganz Europa zu sprechen, erst erwerben muß.

Die komplizierten Probleme der europäischen Integration haben im September und Oktober eine teilweise Klärung erfahren. Die Commonwealth-Gipfelkonferenz gab dem Kabinett Macmillan volle Freiheit zu weiteren Verhandlungen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, obwohl der Beitritt Großbritanniens, wenn er einmal erfolgen sollte, zu einer Lockerung verschiedener überseeischer Bindungen führen dürfte. Neben Kanada, Australien und Neuseeland, deren ablehnende Haltung bekannt war, übten zur allgemeinen Überraschung vor allem Indien, Pakistan und Nigeria eine überaus scharfe Kritik. Von Nehru stammte sogar der Ausspruch, die internationale Entwicklungshilfe sei völlig entwertet, wenn nach der EWG nun auch Großbritannien neue Schranken gegen die Importe aus Übersee aufrichten würde. Selbst die Labour Party blieb auf ihrem Kongreß in Blackpool negativ eingestellt. Dagegen endete die Konferenz der konservativen Partei in Llandudno mit einem überwältigenden Sieg des Premiers, dessen neue Wunschliste zugunsten des Commonwealth freilich in Brüssel eine äußerst kühle Aufnahme fand. Alle Beobachter gewannen den Eindruck, gerade die Agrarpolitik der EWG und die Diskriminierung der überseeischen Gebiete verursachten ungewöhnliche Schwierigkeiten. Offen blieb allerdings die Frage, ob das Kabinett Macmillan den künftigen Kompromiß mit der EWG einfach dem Unterhaus vorlegen oder die Wahlkampagne mit der EWG-Parole eröffnen wolle. Neben zahlreichen Zollfragen sind aber noch die detaillierten Rechte Großbritanniens zur Mitbestimmung des künftigen Kurses der EWG-Politik zu regeln. Die Verhandlungen in Brüssel dauern vermutlich bis Ostern. Auf Grund des augenblicklichen Sachverhalts müssen Irland und Portugal, Dänemark und Norwegen, Schweden, Österreich und die Schweiz mit langen Fristen rechnen.

Man hat oft gesagt, eine EWG mit Großbritannien hätte einen anderen Charakter als die gegenwärtige Konstruktion. Gewiß wollten General de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer ihr Lebenswerk — eine weitgehende deutsch-französische Verständigung — mit Hilfe einer karolingischen Lösung krönen, damit diese neue Basis auch nach ihrem Tode allen innerpolitischen Stürmen standhalten könne. Holland, Belgien und Italien unterstützen wiederum nach Kräften den Beitritt Großbritanniens, um den Nachteilen und Gefahren einer Achse Bonn-Paris rechtzeitig zu begegnen. Dieser innere Konflikt der Westmächte führte zur Vertagung des Projekts einer politischen Union, weil zuerst der ökonomische Sektor mit Hilfe einer Erweiterung der EWG durch fünf vollwertige Beitritte und drei lose Assoziierungen geregelt werden sollte. Störend wirkte dabei die ständige Wiederholung, bei der EWG handle es sich heute um politische Ziele, erst in zweiter oder

dritter Linie um eine wirtschaftliche Zusammenarbeit. Manchmal gewann man geradezu den Eindruck, als müßten etliche Artikel des Römer Vertrags eine Revision oder wenigstens eine tolerante Interpretation erfahren, um dem starren Text, der Handel und Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft gleich für ewige Zeiten unter das kaudinische Joch beugen wollte, eine größere Elastizität zu verleihen. Auf dieses Problem hat Jean Rey, Mitglied der EWG-Kommission und Referent für auswärtige Beziehungen, anläßlich eines Besuches in Oslo ausdrücklich hingewiesen. Rey kritisiert auch Schweden, Österreich und die Schweiz wegen ihrer Erklärung, eine Assoziierung sei nur in Verbindung mit einer Kündigungsklausel denkbar, da sich die Neutralen ihr Verhalten im Kriegsfall nicht von Brüssel vorschreiben ließen. Offensichtlich erstrebt die EWG-Kommission eine Sprengung der bisher geschlossenen Front der Neutralen.

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