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Zeit für Praktiker

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Der neue Präsident Frankreichs, Giscard d'Estaing, verkündete eine „neue Ära“ in der französischen Politik. Sicher ist, daß auch für Europa und insbesondere für die in Brüssel beheimatete Europäische Gemeinschaft eine neue Ära begonnen hat. Daß eine solche neue Ära auch mit dem Wechsel von einer konservativen zu einer Labourregierung in England eingeleitet wurde, ist offensichtlich, und daß das Ende der Ära Brandt in der Bundesrepublik seinen Nachfolger Helmut Schmidt zwangsläufig zu neuen Entschlüssen in der deutschen Innen- und Außenpolitik veranlaßt, liegt auf der Hand. Daß überdies auch alle anderen Mitgliedstaaten der EWG seit Jahresbeginn ihre Regierungen ausgewechselt haben, vervollständigt das Bild; politisch und personell sind die Minister, die sich in Brüssel zu treffen pflegen, neue Figuren auf dem politischen Schachbrett.

Mehr noch als diese „neue Ära“ in den Mitgliedstaaten der Brüsseler Organisation fallen die schwerwiegenden wirtschaftlichen Krisenerscheinungen ins Gewicht, die das Bild der EWG verändert haben. England, Italien und Frankreich leiden an einem Zahlungsbilanzdefizit, das insgesamt auf 20 Milliarden Dollar geschätzt wird, während die Bundesrepublik einen Überschuß von 5 Milliarden aufweist. Italien und Dänemark haben einseitige Maßnahmen zum Schutze ihres Handels getroffen, die notdürftig von der Ge-

meinschaft sanktioniert wurden. Die Inflation zehrt wie ein Krebsgeschwür an der Substanz aller Länder — am wenigsten in Westdeutschland. Das Ende' der billigen Energie und Rohstoffeinfuhr trifft alle Staaten gleich schwer; da Frankreich 80 Prozent seiner Energiequellen einführen muß, ergibt sich für dieses Land ein Kostenüberschuß, der gleich groß ist wie das Sozialprodukt eine;, ganzen Monats. Die geplante Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist infolge der Verschiedenheit der konjunkturellen Lage in den Mitgliedstaaten nicht durchführbar; das Währungschaos, dem Europa allein nicht beikommen kann, weil seine Hauptquelle in Amerika liegt, kam von den Zauberlehrlingen nicht beseitigt werden.

Es handelt sich nicht mehr darum, an Europa zu glauben, oder feierlich zu erklären, man wolle Europa „machen“. Die Zeit der Visionen, Mythen und Träume hat einer Zeit harter Wirklichkeiten weichen müssen. Der Glaube, daß eine gemeinsame Programmierung der Wirtschaft zwangsläufig zu einer politischen Union führen müsse, ist zerstoben. Heute sprechen in der Wirtschaft nur noch Zahlen, und in der Politik kommt es einzig auf den Willen an. Es gibt zweifellos in Europa Kraftlinien oder Strömungen, die einen neuen Politikertypus begünstigen, den man als Technokraten zu bezeichnen pflegt, den man aber besser Praktiker nennen würde.

Ohne Zweifel gehören der deutsche Bundeskanzler Schmidt und der französische Präsident Giscard d'Estaing diesem Typus an. Fleiß, kritischer Sinn, Verstand und Charakter zeichnen solche Männer aus, Eigenschaften, die sie um so nötiger haben, als ihre innenpolitische Basis recht schmal ist. Vor einer öffentlichen Meinung, die in ihren Ländern zweigeteilt ist, und angesichts einer schlechten Wirtschaftslage, die zwangsläufig zu sozialen Spannungen führt, stehen beide Staatsmänner zusätzlich vor dem Problem, was weiter mit Europa geschehen soll.

Helmut Schmidt erklärte: „Wir werden nicht mehr die Blutspender Europas sein, wenn die anderen Länder nicht bereit sind, die nötigen Medikamente zu schlucken.“ Von Giscard d'Estaing kann man bestimmt erwarten, daß er mit seiner Ministerequipe in erster Linie die Inflationsbekämpfung in die Hand nehmen und überdies den Exporthandel zum Zwecke der Sanierung der Handelsbilanz energisch fördern wird. Das bedingt ein Andauern des französischen Wirtschaftswachstums von rund 5 Prozent pro Jahr, damit Giscard auch die von ihm angekündigten Sozialmaßnahmen durchführen kann.

So weit es an den beiden Regierungschefs in Bonn und Paris liegt, braucht man nicht an ihrem Willen zu zweifeln, auch die leidende EWG wieder flott zu machen. Frankreich hatte seit Robert Schuman noch

nie eine so ausgesprochen „europäische“ Regierung wie diejenige, die Giscard gebildet hat. Es hatte auch seit de Gaulles und Adenauers Zeiten keine mehr, die so entschlossen auf die Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik zielt. Die Freundschaft der beiden Regierungschefs in Bonn und Paris erleichtert diese Politik, desgleichen Außenminister Sauvagnargues, der deutsch spricht, wie seine Amtsvorgänger Jobert und Maurice Schumann englisch sprachen und der die Bonner Szene kennt wie kein anderer Franzose. Giscard ist überzeugt, daß die Unabhängigkeit nur in einem europäischen Rahmen verwirklicht werden kann. Da aber Europa — eben Europa, das heißt: vielgeteilt ist, mußten Schmidt und Giscard bereits dem eifersüchtige Verdacht der anderen EWG-Mitglieder entgegentreten, sie beabsichtigten, eine „Achse“ Bonn — Paris. Der Name tut übrigens nichts zur Sache. Daß die enge Zusammenarbeit Frankreich — Deutschland das Rückgrat jeder europäischen Organisation bildet, ist eine Binsenwahrheit, und daß diese Chance leider oft nicht genügend wahrgenommen wurde, hat die europäische Integration nicht gefördert. Mit Sicherheit kann man annehmen, daß weder die deutsche noch die französische Regierung wünschen, daß England der EWG den Rücken kehre. Was man aber in London befürchtet, ist, daß die eine

wie die andere sieh der britischen Regierung widersetzen würde, wenn diese aus der Europäischen Gemeinschaft eine bloße Freihandelsassoziation in der Art der EFTA machen wollte. In einem Gespräch mit dem deutschen und zwei Beneluxbot-schaftern in London erklärte der britische Außenminister Callaghan zum Entsetzen dieser Diplomaten, General de Gaulle habe die wirkliche britische Einstellung zu Europa richtiger eingeschätzt als seine Gegner. Er selber wünsche den Austritt Englands aus der EWG zwar nicht, aber ein General ohne Truppen “sei machtlos, und das englische Volk sei in seiner großen Mehrheit der Europäischen Gemeinschaft feindlich gesinnt.

Der „Schwarze Peter“ der Europafrage liegt in den kommenden Monaten weder in Bonn noch in Paris, sondern in London. Die acht Partnerländer Englands werden für britische Wünsche, soweit sie Wirtschaftsfragen betreffen, zweifellos Verständnis aufbringen; aber sie werden an den Grundlagen des Vertrages von Rom und an den bereits vorhandenen Strukturen der EWG nicht rütteln lassen. Sowohl Callaghan als auch seine europäischen Partner werden sich einer diplomatischen Sprache befleißigen. Aber die^enat thre*^Srlnze an den Grundsätzen, die die einen und die andei glauben vertreten Zu müssen.

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