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Vom Mittelmeer zur Donau

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Mancher Europäer macht sich ernstliche Sorgen über den schleppenden Fortschritt der Integration des westlichen Teiles unseres Kontinents. Es gibt zwar eine ziemlich aufgeblähte internationale Bürokratie in Brüssel, und die Sitzungen der Minister sind kaum mehr zu überschauen, doch der große Schritt nach vorn, die Gründung einer politischen Union, läßt auf sich warten. Diesen Pessimisten muß jedoch entgegengehalten werden, daß seit dem Mai 1950 — damals verkündete der französische Außenminister Robert Schu-man den später nach ihm benannten Plan — viel Positives geschehen ist.

Natürlich sucht die öffentlichkeit innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft Symbole, die eine effektive Koordinierung der Ökonomie der Partnerstaaten demonstrieren. Einige technische Großtaten, welche von zwei oder mehreren Ländern gemeinsam vollbracht wurden, beweisen, daß eine technologische Zusammenarbeit im europäischen Rahmen wünschenswert und denkbar ist.

Ein bemerkenswertes Unterfangen internationalen Ranges, die Konstruktion des Uberschallflugzeuges „Concorde“, ist abgeschlossen. Es garantierte über Jahre 40.000 Ingenieuren, Angestellten und Arbeitern eine gutbezahlte Arbeit. Man kann die Indienststellung von „Concorde“ nicht nur unter rein kommerziellen oder technologischen Aspekten sehen. Es handelte sich vielmehr um eine große nationale und internationale Aufgabe, welche von zwei Völkern gemeinsam in die Tat umgesetzt wurde. So kann man von einer Art von Mythos sprechen, der jenseits sachlicher Überlegungen diese Pläne inspirierte.

Der wendige Präsident des franzö-sichen Parlaments, Edgar Faure, griff eine Idee auf, die bereits in der Regierungszeit Neros von einem

Kommandanten der römischen Legionen in Germanien formuliert worden ist, und zwar, drei wichtige europäische Ströme durch Kanäle zu koppeln. Auch Karl der Große spielte mit einem ähnlichen Gedanken.

Während die Verbindung Rhein-Main-Donau bis 1982 ihre Vollendung finden soll, handelt es sich beim Vorschlag Edgar Faures um einen Kanal zwischen Rhone und Rhein. Damit würde sich das Mittelmeer der Nordsee durch eine Wasserstraße nähern, so daß die industriellen Ballungsgebiete Westeuropas mit den Nationen des Nahen Ostens und den Anrainern des Mittelmeeres in engen Konnex treten könnten. Seit den Tagen General de Gaulies bis zu den heutigen Giscard d'Estaings wurde dieser Kanalbau immer ' wieder als vollendete Tatsache hingestellt. Aber nichts Konkretes geschah! Schon am 10. November 1961 verkündete de Gaulle, die Verbindung Rhein-Rhöne werde die größte Reorganisation der französischen und europäischen Wirtschaft einleiten. Auch Präsident Pompidou hatte sich mehrfach energisch für das Projekt ausgesprochen. Giscard d'Estaing gelobte in seiner Wahlkampagne, er werde den ersten Spatenstich dieses gigantischen Werkes vornehmen. Ernstere technische Schwierigkeiten bestehen nicht. Nach den bisher bekanntgewordenen Plänen würde der Bau sieben Jahre dauern und zwischen 6 und 7 Milliarden Francs kosten. Die Länge der künstlichen Wasserstraße wird 229 Kilometer betragen und sieht 24 Schleusen vor.

Wir finden im VI. und VII. Plan der französischen Industrieentwicklung eine Bestätigung der Wichtigkeit dieses Projektes. Der finanzielle Nutzen scheint aber nicht groß zu sein, nach den Berechnungen müßten 1985 jährlich 50 Millionen Tonnen Waren transportiert werden, um den Kapitaleinsatz zu rechtfertigen.

Was jedoch zu erwarten ist, sind 3,92 Millionen Tonnen im Jahre 1985 und 9,8 Millionen Tonnen im Jahre 1990.

Nach den vorliegenden Finanzierungsplänen sollen der französische Staat 80,1 Prozent, die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz je 2.3, die von dem Vorhaben betroffenen französischen Regionen 14 und die nationale Rhöne-Gesellschaft 3,6 Prozent der Kosten übernehmen. Was im Zeitpunkt steigender Arbeitslosigkeit von besonderer Bedeutung zu sein scheint, ist die Schaffung von 30.000 Arbeitsplätzen; weitere 20.000 können durch den Bau des Kanals gerettet werden. Die Rendite des Werkes spielt unter solchen Aspekten eine geringere Rolle. Edgar Faure und seine Freunde haben sowohl den Staats- wie den Ministerpräsidenten zu überzeugen versucht, daß es nicht darum gehe, den Kanal zu 20 oder 30 Prozent zu nutzen, sondern eine technische Leistung zu setzen, die für die europäische Integration von nicht zu übersehender Bedeutung ist.

Am 24. November 1975 erklärte Giscard d'Estaing in Dijon vor 164 Delegierten von sieben verschiedenen Regionen, daß der projektierte Kanal Rhein—Rhone bis 1985 gebaut werden solle. Noch sind nicht alle Widerstände überwunden und alle ökologischen Befürchtungen ausgeräumt worden. In Frankreich tauchte der Wunsch auf, dem Projekt, das in erster Linie natürlich diesem Lande zugute kommt, internationale Dimensionen zu geben. Was zwischen Paris und London hinsichtlich des Tunnels unter dem Ärmelkanal nicht geglückt ist, soll nun durch ein deutsch-französisches Werk ersetzt werden, an dem die Bundesrepublik, intensiver als ursprünglich geplant, teilnehmen soll. Es geht nicht nur darum, ein preiswertes Transportmittel zu schaffen, der Bau wird vielmehr für die fortgeschrittene Integration der beiden Nationen diesseits und jenseits des Rheins Zeugnis ablegen. Giscard d'Estaing will Deutschland unmittelbar an sein Konzept einer dynamischen Mittelmeerpolitik binden und den Nord-Süd-Austausch verstärken. In Paris nimmt man an, daß sich durch die Errichtung einer Wasserverbindung zwischen Rhein und Donau die Blicke der deutschen, niederländischen und belgischen Industrie nach Osten wenden könnten und Frankreich eine Art von Bretagne Europas werden könnte, falls nicht ein Gegenstück geschaffen wird.

Abgesehen von diesen internationalen Aspekten, verdient das Projekt unter innenpolitischen Gesichtspunkten eine berechtigte Beachtung. Seit Monaten geht die Diskussion um eine vernünftige Regionalisierung — ein Deutschsprachiger würde von „Föderalisierung“ sprechen — des zentralistisch geordneten Staates. Obwohl sich Giscard d'Estaing während seines Wahlkampfes für eine umfassendere Selbstverwaltung der Regionen eingesetzt hat, rückt er jetzt von diesem Programm sichtlich ab. Heute denkt er nicht mehr daran, die bisherigen Verwaltungsstrukturen, als da sind: die Gemeinde und das Departement, durch zusätzliche Organe, zum Beispiel gewählte Regionallandtage, zu ersetzen. Damit hat er viele Erwartungen enttäuscht. Darum entschloß sich Giscard d'Estaing dann, den Rhöne-Rhein-Kanal als echte Verpflichtung auch den daran beteiligten Regionen zu übertragen. Die Größe des Werkes würde, so nimmt der Staatschef an, alle Aktivitäten der interessierten Landstriche konzentrieren und die politischen Aspirationen in den Hintergrund treten lassen. Noch ist unklar, ob seine Rechnung aufgeht, aber Giscard d'Estaing gab einem Programm grünes Licht, das 15 Millionen Franzosen, die aus dem Bau des Kanals direkt oder indirekt Nutzen ziehen werden, mit Hoffnung erfüllt.

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