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Sozialismus statt Religion?

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Am 11. Oktober erschien ein seit längerem angekündigtes Buch des Staatspräsidenten Giscard d'Estaing, mit dem Titel „die französische Demokratie“. Der Verkaufserfolg übertraf alle Erwartungen. Am ersten Tag konnte de,r Verlag feststellen, daß die Auflage von 200.000 Exemplaren restlos vergriffen war.

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Am 11. Oktober erschien ein seit längerem angekündigtes Buch des Staatspräsidenten Giscard d'Estaing, mit dem Titel „die französische Demokratie“. Der Verkaufserfolg übertraf alle Erwartungen. Am ersten Tag konnte de,r Verlag feststellen, daß die Auflage von 200.000 Exemplaren restlos vergriffen war.

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Selbstverständlich trug ein massiver Einsatz der Massenmedien dazu bei, in weiten Kreisen Interesse für die gesellschafts- und staatspolitischen Ausführungen des „Ersten Bürgers“ zu wecken. Trotzdem können die zahlreichen Kommentare, kann der Abdruck einzelner Kapitel, diesen Erfolg nicht erklären. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, daß eine große Anzahl von Menschen erfahren will, wohin das Schiff steuert, das Giscard d'Estaing kommandiert.

Wenn der Staatschef nun zur Feder gegriffen hat und auf 182 Seiten die heutigen Situation der französischen Gesellschaft analysiert, so füllt er damit eine Lücke und bietet seinen Anhängern eine kohärente Vision, die an die liberale Tradition des Landes anknüpft. Der Verfasser, der gemäß dem Buchstaben und dem Geist der Verfassung oberster Chef seiner Majorität ist, will eine umfassende Diskussion in Gang bringen und behält sich vor, in einem zweiten Band seinen Kritikern zu antworten. Mit dem Werk versucht Giscard d'Estaing, die ideologische Spaltung, die Frankreich derzeit charakterisiert, zu überwinden, da sie keiner soziologischen Fatalität entspricht. Aber die sarkastische Beurteilung seiner Thesen durch die Sprecher der Oppositionsparteien zeigt, daß die Kluft noch immer klafft. Zwischen dem neoliberalen Glaubensbekenntnis eines Giscards und den Verfassern des „Gemeinsamen Programms“ der Volksfront ist nach wie vor jeder Dialog ausgeschlossen. Diese verkrampfte innenpolitische Situation läßt an einer der Hauptthesen des Staatspräsidenten zweifeln, daß nämlich eine stabile pluralistische Demokratie in der Lage sei, die Gegensätze abzuschleifen und die Gewaltenteilung zu respektieren. Dem Verfasser geht es darum, einen wirtschaftlichen und politischen Neoliberalismus zu erklären, der den Bedingungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts angepaßt ist. Die traditionellen Ideologien des Marxismus und des klassischen Liberalismus seien unfähig, die Phänomene unserer Zeit zu meistern. Der Marxismus stimme mit der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt nicht mehr überein und die Kollek-tivisierung der Produktionsmittel beende, wie die Praxis erwiesen habe, keineswegs die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Giscard d'Estaing verurteilt auf das Schärfste den Kollektivismus, den er mit dem Leben in einem Ameisenhaufen vergleicht. Aber auch der überlieferte Liberalismus, der in seinen Prinzipien gesund sei, werde von Gruppen in Anspruch genommen, die in Wirklichkeit Monopole zu begründen und den eigentlichen Motor, die Konkurrenz, auszuschalten bestrebt seien. Der Präsident erläutert sodann, die Bedingungen für die Freiheit in einem pluralistischen Wirtschaftssystem. Er verneint den Nutzen der Nationalisierung großer Wirtsohaftsbetriebe, wünscht eine gesunde Konkurrenz, den Erwerb individuellen Eigentums und die Bestätigung der menschlichen Freiheit, die sich an einer gesunden Marktwirtschaft zu orientieren habe.

Kritiker meinen, daß dieses Buch auch dann Erfolg hätte, wenn Giscard d'Estaing nicht das höchste Amt der Republik bekleiden würde. Zumindest im Regierungslager ist eine fruchtbare Diskussion entbrannt und Giscard d'Estaing kann für sich in Anspruch nehmen, einen Beitrag zur Re-ideologisiierung der Mehrheit geleistet zu haben.

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