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Pariser Gemeinderatswahlen nehmen nationale Dimensionen an

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Seit Wochen steht ein Buch des früheren Unterrichtsministers Alain Peyrefitte mit dem Titel „Das französische Übel” an der Spitze der Bestsellerlisten aller französischen Zeitungen und Zeitschriften. In diesem Werk untersucht Peyrefitte das Funktionieren der staatlichen Einrichtungen und klagt die zentralisierte Bürokratie an, jede regionale Initiative zu ersticken.

Ein aufmerksamer Beobachter des gegenwärtigen Frankreich kann wohl feststellen, daß Städte und Regionen sich bemühen, ein Eigenleben zu führen, aber die Stadt an der Seine saugt weiterhin die geistige Substanz der Nation auf. Mehr als einmal wurde von Regierungsseite versprochen, man werde dieses alte Übel abstellen. Zahlreiche Betriebe wanderten aus Paris ab, doch blieben die Generaldirektionen weiterhin im Zentrum der Weltstadt und dachten nicht daran, den Fertigungsstätten zu folgen. Will ein Bürger außerhalb der Bannmeile von Paris Karriere machen, muß er sich dennoch, ob er will oder nicht, in der Metropole oder in einem ihrer Vororte niederlassen. Im Innersten ihres Herzens sind die Franzosen stolz auf ihr Paris. In der ruhmvollen, manchmal dramatischen Geschichte Frankreichs kam es immer wieder zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen der Staatsführung und dieser Metropole, deren Neigung zum Frondieren weltweit bekannt ist. Deshalb verwalteten, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sämtliche Regimes Paris direkt und duldeten hier nicht den Aufbau einer autonomen Stadtverwaltung, wie dies für Lyon, Marseille oder Straßburg selbstverständlich war. Nicht einmal de Gaulle hat es gewagt, das Pariser Statut anzutasten. Sein Nachfolger Pompidou zeigte nicht die Absicht, Paris für mündig zu erklären. Giscard d’Estaing versprach den Parisern 1974, während seines Wahlkampfes, einen Bürgermeister und einen Stadtsenat.

Es ist klar, daß ein gewählter Bürgermeister von Paris eine beachtliche Rolle spielen könnte. Er wäre der dritte oder vierte Mann im Staate.

Die Funktion eines Stadtvaters von Paris sollte nach Meinung des Staatspräsidenten von einer Persönlichkeit ausgeübt werden, die für eine loyale Einstellung gegenüber dem Elysėe bürgt. Viele Namen werden seit Monaten auf der Gerüchtebörse gehandelt. So dachten die Berater des Staatspräsidenten an die Gesundheitsministerin Simone Veil, die seit zwei Jahren bei allen demoskopischen Umfragen die Spitze der Popularitätskurve einnimmt Die Politdame zeigt sich aber nicht geneigt, das Gesundheitsministerium aufzugeben. Also bestimmte Giscard d’Estaing einen seiner besten Freunde, den Grafen d’Ornano, derzeit Industrieminister und Bürgermeister des mondänen, aber etwas verstaubten Seebades Deauville, zum Kandidaten. Michel d’Omano besann sich nicht lange, eröffnete als erster den Wahlkampf und vermochte auf ein nicht zu unterschätzendes Interesse der Bürger und Wähler zu stoßen.

Weder Giscard d’Estaing noch Regierungschef Raymond Barre hatten jedoch die Parteien der Mąjoritat konsultiert Nun sieht die gaullistische Sammelpartei UDR, die sich im Dezember den Namen RPR gegeben hat, Paris als eine Domäne an, die nicht angetastet werden darf. In der Tat verfügt Paris seit der Machtübernahme durch de Gaulle über eine festgefügte Phalanx gaullistischer Wähler, und die Ernennung d’Ornanos wurde demnach als ein direkter Angriff gegen das RPR aufgefaßt. Die Gaullisten stellten deshalb ebenfalls einen Kandidaten auf, der sich jedoch bisher in der Öffentlichkeit nicht sonderlich profiliert hat. Zur politischen Sensation höchsten Ranges wurde dann der plötzliche Entschluß des soeben gewählten Präsidenten des RPR, Jacques Chirac, für das Amt des Pariser Bürgermeisters zu kandidieren. Jacques Chirac hatte weder seine eigene Partei, geschweige denn Giscard d’Estaing oder Barre konsultiert.

Durch dieses Eingreifen Chiracs wurde eine völlig neue Situation geschaffen, und es mangelte nicht an Warnungen, denen zufolge diese zweifache Kandidatur für die Einheit des konservativen Lagers überaus gefährlich wäre. Es kam in. der Folgezeit zu einer solchen Fülle von Erklärungen, Dementis, Versprechungen und Hinweisen, daß selbst die besten Kenner der französischen Innenpolitik nicht mehr in der Lage waren, irgendwelche Prognosen zu stellen. Vom Staatspräsidenten wurde mehrmals der Versuch unternommen, Chirac und d’Ornano zum Verzicht auf ihre Kandidatur zu veranlassen, um auf diese Weise einen Kompromiß zu ermöglichen. Dabei wurde oft der Name des jetzigen Parlamentspräsidenten Edgar Faure genannt, der als einer der wendigsten und klügsten Politiker gilt, über den die Majorität verfügt. Während d’Ornano ohne Zögern gewillt war, zu demissionieren, wenn Jacques Chirac dasselbe täte, hat sich Chirac geweigert, sein Vorhaben fallenzulassen.

Es fragt sich, warum Chirac mit solcher Energie die Offensive eingeleitet hat. Sieht man vom Ehrgeiz ab, der den Exministerpräsidenten nicht zur Ruhe kommen läßt, gibt es immer noch mehrere Gründe, die Chirac be wogen haben könnten, in den Ring zu treten. Chirac will jedenfalls seine Hausmacht so sehr vergrößern, daß er in Hinkunft Giscard d’Estaing seinen Willen aufzwingen kann. Der Präsident des RPR signalisiert dazu ein Nah- und ein Fernziel. Er sieht die Gefahr, daß eine Volksfrontregierung nach den Legislativwahlen im März 1978 an die Macht kommen könnte. Also müssen jetzt schon Dämme errichtet werden. Ferner denkt Chirac an das Jahr 1981, in dem der Staatschef gewählt werden soll, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Chirac nach der Krone greifen will. All diese Gründe bleiben den Bürgern von Paris keineswegs verborgen. Während d’Ornano sich im Fall eines Wahlsieges ganz der Stadt widmen will, sieht Chirac in ihr nur eine solide Plattform, und die vielstrapazierten Meinungsforscher stellten fest, daß Chirac unter keinen Umständen als Kandidat mit der großen Chance gelten könne. Jedenfalls werden die Gemeinderatswahlen von Paris nationale Dimensionen annehmen und die Zukunft Frankreichs auf nachhaltige Weise beeinflussen.

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