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Gaullisten nehmen Distanz von Giscard d’Estaing

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Bewirbt sich Chirac für Präsidentenamt?

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Bewirbt sich Chirac für Präsidentenamt?

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Es gehört in Frankreich seit Jahrzehnten zum guten Ton, nach der Militärparade am 14. Juli das politische Leben einschlafen zu lassen und sich den Genüssen der Ferien hinzugeben. Heuer ist die Situation etwas anders: Durch den heftigen Wahlkampf, der im Frühjahr die Fünfte Republik erschütterte, wurden tiefe Gräben in der politischen Landschaft der Nation aufgerissen. Die derzeitige innenpolitische Lage Frankreichs steht im Zeichen von Reformen in allen Parteien. Denn für alle politischen Gruppierungen ist die Zeit gekommen, die bisherigen Positionen und Programme neu zu überdenken.

Über eines haben die politischen Beobachter schon jetzt wenig Zweifel: Der eigentliche Sieger dieses Jahres wird aller Voraussicht nach Giscard d’Estaing heißen. Der Staatspräsident hat diese Tatsache selbst zufrieden zur Kenntnis genommen. Die schwere Hypothek, die zu Beginn dieses Jahres auf der Nation lastete, ist bis auf weiteres verschwunden. Die Wähler haben während der entscheidenden Märzwahlen ihre Stimmen nicht nur für den Bestand der bisherigen Gesellschaftsordnung abgegeben, sie haben sich darüber hinaus zu den Einrichtungen der Fünften Republik bekannt.

Wie bereits beim Gründer des Regimes, kann man auch 1978 wieder feststellen: Die Regierung ist offensichtlich nur ein ausführendes Organ, das die politischen-Vorstellungen und Pläne des Staatschefs in die Praxis umsetzt und verwirklicht. Der jetzige Ministerpräsident Raymond Barre, der in loyalster Form den Anweisungen des Elyseepalastes Folge leistet, hat zu wenig Gewicht, um sich entsprechend durchzusetzen und in den Vordergrund, zi^.stellgn.tEą igt nur zu gut bekannt, į .daß,,sich,, gerade in diesem, Punkt starke Meinungsverschiedenheiten zwischen Giscard d’Estaing und seinem ehemaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, ergeben hatten.

Besonders in der Außenpolitik zeigte sich, daß Giscard d’Estaing die Zügel fest in den Händen hält, Ratschläge zwar aufgeschlossen beurteilt, aber trotzdem der eigentliche Inspirator für alle Aktionen auf außenpolitischem Gebiet ist. Man gewinnt den Eindruck, daß Giscard d’Estaing mehr noch als seine Amtsvorgänger diesen politischen Bereich als seine uneingeschränkte Domäne ansieht.

Kommentatoren und Politologen haben die vier Jahre, die Giscard d’Estaing Präsident ist, herangenommen, um zu überprüfen, wieweit die Popularität eines Staatsmannes abzumessen sei, der sich von Jahr zu Jahr profiliert hat und seinen beiden Vorgängern im Amte in nichts nachsteht. Selbstverständlich wurde dabei in erster Linie die Position des Staatspräsidenten in der Innenpolitik abgewogen, gelobt oder verurteilt, je nachdem, von welcher Seite Studien verfaßt wurden. Dennoch bestätigen die meisten Meinungsforscher, daß im Falle einer jetzt stattfindenden Präsidentschaftswahl, Giscard d’Estaing mit mindestens 55 - 56 Prozent der Stimmen rechnen könnte.

Der Amtsinhaber, hat eisen .eigenen Stil entwickelt, der in vielem vollkommen verschieden ist von jenem, den General De Gaulle oder Georges Pompidou kreiert hatten. Der jetzige Chef des Elysee-Palastes versucht in erster Linie die internen Spannungen abzubauen und die Versteinerung der französischen Innenpolitik aufzuweichen. So empfing er nicht nur die Delegierten unzähliger Berufs verbände, zum erstenmal in der Geschichte der Fünften Republik traf ein Präsident auch mit den Bossen der Gewerkschaften und den Chefs der Opposition zusammen.

Das französische Staatsoberhaupt hat sich stets zum Liberalismus bekannt und er hat im jetzigen Ministerpräsidenten Barre jenen Mann gefunden, der eine freie Wirtschaftsordnung konzipiert. Einige kleinere Verbesserungen im Hinblick auf den Mindestlohn - etwa verstärkte Zahlungen für die Familien und Kinderbeihilfen - sind schon zu verzeichnen. Dies sind die ersten Anzeichen dafür, daß Giscard d’Estaing und sein Team eine Kurskorrektur in der Wirtschaft eingeleitet haben, von der man noch nicht weiß, ob sie gelingen wird.

Denn wie der Präsident des Parlaments, Chaban Delmas, kürzlich vermerkt hat, darf die Regierungsmehrheit nicht vergessen, daß 45 Prozent der Nation die Regierung bei den letzten Wahlen nicht unterstützt haben. Aber auch sie erhoffen sich ein besseres wirtschaftliches-Sehioksal. -Hinter den Kulissen in Paris wird jedenfalls schon die kommende Präsidentschaftswahl 1981 angekündigt. Giscard d’Estaing hat also nicht mehr so viel Zeit zur Verfügung, um das schwerste Problem der französichen Innenpolitik - die Verbesserung der finanziellen Basis von Millionen Franzosen - zu meistern.

Giscard d’Estaing wird bei dieser kommenden Wahl lediglich von der neuen Parteiorganisation UDF unterstützt. Die gegenwärtige Majorität besteht jedoch bekanntlich nicht nur aus der UDF, sondern benötigt auch die Unterstützung der Parlamentsfraktion, der Gaullisten.

Seit Wochen fühlen sich die Leistungsorgane wie die Mitglieder des RPR frustriert, da eine leichte Annäherung zwischen dem Elyseepalast und den Sozialisten zustande gekommen ist. Die Beziehungen zwischen dem Regime und den Gaullisten werden daher in den nächsten Monaten auch eines der Hauptprobleme der Innenpolitik sein. Schon prophezeien die Berater Giscard d’Estaings, daß sich der Bürgermeister von Paris sicherlich bei den nächsten Präsidentschaftswahlen als Kandidat aufstellen läßt. Das könnte durchaus passiferen, denn seit Ende des Votums distanzieren sich die Führungsschichten des RPRs zusehends von der gegenwärtigen Regierung. Bis jetzt haben sie aber keine echten Alternativen entwickelt.

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